Die Knochen der Klassik

Der von der FAZ entfachte Skandal um die Sonderakte "Mazeration Goethe" ist der albernste Angriff auf das Kulturverständnis der DDR.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Bestände vieler deutscher Archive, Museen und Grabkammern von den Nazis auf eine Reise ins Ungewisse geschickt. Die Knochen Friedrichs des Großen z.B. brachte man in einen Kali-Stollen im thüringischen Bernterode, um zu verhindern, daß sie in Feindeshand fielen.

Auch die Särge der Nationaldichter Schiller und Goethe wurden 1944 ausgelagert. Der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel ließ sie in einem Jenaer Sanitätsbunker vor den heranrückenden Amerikanern verbergen. Kurz vor deren Eintreffen sollten die Behältnisse samt Exuvien in die Luft gesprengt werden, was nur durch einen couragierten Arzt sabotiert wurde, der sie mit darübergeschütteten Mullbinden und Pflastern für das Exekutionskommando der Aktion "Verbrannte Erde" unkenntlich machte.

Die so der deutschen Nation erhalten gebliebenen Särge kehrten nach Weimar in die Fürstengruft zurück, wo sie zunächst von den Befreiern, den Amerikanern, aufgebrochen wurden. In Schillers Sarg war allerdings zuvor schon Licht gefallen. Nach den Untersuchungen des Tübinger Anatoms Ludwig von Froriep waren 1911 die bis dahin irrtümlicherweise als klassisch verehrten - und gar von Goethe bedichteten - Knochen eines Unbekannten entfernt und durch die Gebeine Schillers ersetzt worden.

Goethe lag dagegen noch so, wie man ihn 1832 beigesetzt hatte. Er wurde geradegerückt, desinfiziert, sonst geschah nichts. Weitere Öffnungen erfolgten 1953, 1959 und, wie jetzt bekannt wurde, 1970, als man zwecks dauerhafter Konservierung Goethes Gebeine von dem ihnen anhaftenden verweslichen Gewebe befreite und gründlich säuberte. Es folgten zwei weitere Sargöffnungen, zuletzt in den achtziger Jahren.

Das Ministerium für Kultur der DDR hatte sich seit der wegweisenden Programmerklärung "Über den Aufbau einer Volkskultur" 1954 der Bewahrung und kritischen Erschließung des klassischen Kulturerbes verschrieben, das als Eigentum des deutschen Volkes angesehen wurde. Zum geistigen Erbe der Werke und Nachlässe wurden im weiteren Sinne auch sämtliche Erinnerungs- und Gedächtnisstätten, mithin auch die Weimarer Fürstengruft gerechnet. Daher gehörte die Erhaltung der Särge Schillers und Goethes zum Pflichtprogramm, auch, um dem Vorwurf der Schlamperei vorzubeugen. Die Intensivierung des Denkmalschutzes in der DDR seit 1970 ist hier als programmatischer Rahmen zu berücksichtigen. Bei rund 10 000 "Objekten mit nationaler Repräsentanz" ("DDR-Handbuch") wurden zu Beginn der siebziger Jahre Restaurationsarbeiten durchgeführt.

Daß man im Zuge der Ausbesserung eines Beschlages auch gleich den Inhalt von Goethes Sarg inspizierte und reinigte, geschah aus den gleichen Motiven wie die Öffnung des Sarges Friedrichs des Großen 1952 in der BRD. Der Kustos wollte sichergestellt wissen, daß die Gebeine nicht verrotten.

Eigentlich könnte die Literaturgeschichtsschreibung den DDR-Präparatoren dankbar sein, denn sie lieferten mit ihrer Aktion nicht nur unumstößliche Beweise für Goethes geringe Körpergröße - 1,69 Meter nach der Pearsonschen Körperformel -, sondern stellten zugleich das skandalöse Fehlen mehrerer Fuß- und Fingerglieder fest und stützten durch eine penible Fotodokumentation die oft bezweifelte Behauptung, Goethe sei ein "Sitzriese" gewesen. Zugleich lieferten die Skelettbeschauer der Kulturwissenschaft ein präzises Bild von der Bestattungsweise eines Prominenten in der Restaurationszeit - Seegrasbett, Lorbeerkranz, gelbes Totenhemd mit Perlenstickerei - und stellten der modernen Computeranimation Daten zur Verfügung, mit denen sich das Gesicht rekonstruieren läßt. Endlich könnte entschieden werden, ob das Schmellersche oder das Rauchsche Porträt Goethes dem Dichter näher kommt. Welch ein Schatz lagert da also im Archiv der Stiftung Weimarer Klassik, öffentlich zugänglich und seit Jahren bekannt als "Sonderakte Mazeration Goethe"!

So weit, so gut, hätte nicht die FAZ die Akte ans Licht der gemeinen Öffentlichkeit gezogen, dies als eine unglaubliche Entdeckung präsentiert und die makabren Bilder in den Medienumlauf gebracht. So starrte man nicht nur in der "Tagesschau" auf das Skelett mit Lorbeerkranz, sondern mußte auch in Bild neben dem Schädel Goethes Rolf Hochhuths Grinsen sehen. "Darf man so mit dem Genie umgehen?" fragt Hochhuth, und man ist geneigt, diese Frage direkt an die FAZ und ihren Redakteur Thomas Steinfeld weiterzugeben.

"Wenn nun heute", so Steinfeld, "in einer Gesellschaft, in der jede Grausamkeit öffentlich gezeigt wird, die Publikation dieser Bilder etwas Pietätloses sein soll, dann schützt man die Grausamkeit, mit der damals etwas geschah, was nicht hätte geschehen dürfen." Dabei gibt es nur eins, was nicht hätte geschehen dürfen, und das ist der Steinfeldsche Artikel, der wohl billigste Angriff auf das Goethe-Bild und das Kulturerbe-Verständnis der DDR, den es je gab.

Steinfeld moniert den "Kult der toten Dichter", den die DDR in der Fürstengruft betrieben haben soll, und er verschweigt geflissentlich, daß man sich in Frankfurt schon heute auf den Nachbau von Goethes Gartenhaus freut. Die konservatorischen Bemühungen um den Erhalt der Dornburger Schlösser und anderer Goethe-Stätten sucht Steinfeld lächerlich zu machen, ohne das komplett simulierte Frankfurter Goethe-Haus zu erwähnen.

Dann aber kommt Steinfeld auf den Punkt: Die Konservierung der Goethe-Gebeine sei ein revanchistischer Akt der "radikalen Philologie am Dichter"; die DDR habe verhindern wollen, daß Goethe "verschwindet", daß sich der einstige "Fürstenknecht" aus dem Staub macht und sich einer künftigen Anprangerung als Schandgerippe des kulturellen westlichen Imperialismus entzöge. Man stelle sich vor: Goethe für die Ewigkeit nach der Weltrevolution als "Trophäe" der DDR mazeriert.

Möglicherweise hat Steinfeld - wie die meisten Frankfurter Klassikfans - es nicht verwunden, daß Goethe 1818 aus steuerlichen Gründen auf das Bürgerrecht in der Mainmetropole verzichtete. Immerhin verzichtet der FAZ-Literaturredakteur jedoch darauf, seine Horrorstory mit der plumpen These zu krönen, die Reliquiensicherung habe sich als "materialistischer" Akt ganz auf der Diamat-Linie befunden, wie dies Günter Hess im Spiegel behauptet.

Auch hält Steinfeld es für "unwahrscheinlich, daß man (...) an höherer Stelle von diesem Unternehmen wußte", was seine skandalträchtige Verschwörungstheorie ziemlich entkräftet. Und die "Geheimhaltung" dient schließlich nur noch der Repetition des Klischees von der großen Geheimhaltungsgesellschaft: "Die DDR muß eine Gesellschaft von Verschwörern gewesen sein, eine Gesellschaft, in der man voraussetzen mußte, daß der andere seine kleinen Geheimnisse hat, weshalb es gut war, nicht überall genau hinzugucken." Was bleibt, ist tiefe Betroffenheit: "Das Merkwürdige, das zutiefst Irritierende an diesen Ereignissen", schreibt Steinfeld, "liegt darin, daß sie sich überhaupt zugetragen haben."

Daß der Vorwurf der Grabschändung nicht zieht, ist jedem klar, der von Goethes Umgang mit den vermeintlichen Schiller-Gebeinen weiß, die er, Goethe, eigenhändig zusammenzupuzzlen versuchte und sich dabei an einem halben Dutzend Unschuldiger im Kassengrabgewölbe verging. "Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend" - mit dieser Goethe-Zeile aus "Schillers Reliquien" durfte sich auch die sozialistische Putzkolonne beruhigen.

Um jedoch das eigentliche Ziel des FAZ-Angriffes nicht aus den Augen zu verlieren, scheint es geboten, einen Blick auf die Goethe-Rezeption in der DDR zu werfen: Johannes R. Becher, der erste Minister für Kultur der DDR, erklärte 1952 in seiner "Verteidigung der Poesie", das "eigentliche Goethesche Wesen" liege "in der Zukunft", und Becher wird damit nicht den Tag der öffentlichen Abstrafung des Klassenfeindes gemeint haben. Denn entgegen Steinfelds populistischer Behauptung ist die DDR mit der literarischen Hinterlassenschaft Goethes pfleglich umgegangen. Das Ministerium für Kultur hat in Goethe als der "Personifizierung des friedliebenden Menschen" bereits 1949, im DDR-Gründungsjahr, das zugleich ein Goethejahr war, die humanistische Seite des Klassikers entdeckt, woran sich ideologisch anknüpfen ließ. So war der Arbeiter- und Bauernstaat darum bemüht, "das Gespräch über Goethe (...) neu zu beginnen" und die "völkerverbindende Rolle von Literatur und Kunst, wie sie Goethe verstand", zu fördern ("Goethe heute", 1982).

Dies gelang vor allem der 1946 gegründeten Weimarer Goethe-Gesellschaft, die sich erfolgreich als gesamtdeutsche Institution gegen bundesrepublikanische Alternativgründungen behaupten konnte und seit 1971 Vertreter beider deutscher Staaten im streitbaren Dialog vereinte. Bürgerliche Demokraten des Westens stellten dort ihr Bild von Goethe als eines Garanten klassischer geistiger Werte zur Neugestaltung Deutschlands vor; Marxisten imaginierten einen revolutionär-demokratischen Goethe und destillierten aus seinem bürgerlich-klassischen einen allumfassenden neuen sozialistischen Humanismus.

Diese Theorien wurden in der DDR ausführlich debattiert, während BRD-Schüler bis in die siebziger Jahre Goethe-Verse pauken mußten. Öffentliche Zeichen der Wertschätzung, die Goethe in den Jahren der "Kulturrevolution" in der DDR genoß, waren die Gründung der "Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten" 1953 und die seit 1952 erscheinende Akademie-Ausgabe der "Werke" (Leopoldina-Ausgabe).

"Zielstrebig wurden seitdem die überlieferten Gebäude des klassischen Weimar denkmalpflegerisch saniert, (...) die (...) Kunstsammlungen, Bibliotheken und Archive erstmals sachgerecht geordnet und durch Kataloge erschlossen, eine mehr als 140 Bände umfassende Reihe von Volksausgaben, die Bibliothek deutscher Klassiker, herausgegeben, (...) und (...) in vielfältigster Weise für die Popularisierung der Dichtungen und Schriften Goethes (...) Sorge getragen", heißt es zusammenfassend in den "Weimarer Schriften", Nr. 34, 1989. Wer je als armer Weststudent in die DDR fuhr, um Bücher zu kaufen, hat bei den staatlichen, preiswerten Klassikerausgaben freudig zugegriffen.

Selbst die Wende von der vorbehaltlosen Bewahrung zur "kritischen Erbe-Aneignung" nach dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 führte nicht zu einer Verteufelung Goethes in der DDR, etwa wegen seines ästhetischen Aristokratismus, sondern nur zu einer noch differenzierteren und vielschichtigeren Auseinandersetzung mit dem Werk. Wie bereits in den Jahren zuvor war diese Beschäftigung (etwa in Werken von Peter Hacks, Wolfgang Harich, Volker Braun und Ulrich Plenzdorf bzw. in der "Klassik-Debatte" in der Zeitschrift Sinn und Form) ungleich intensiver als im Westen. Und schließlich, ein eher akzidentielles Indiz sozialistischer Klassikerverehrung, zierte Goethes Konterfei den "20 Mark"-Schein der DDR. Zu Westgeld-Ehren brachte es der Dichter dagegen nie.