Datenschutz für Deutsche

Das Bundesfinanzamt will Arisierungs-Akten zugänglich machen. Doch wer sie lesen darf, das bleibt unklar

Sind sie nun "gesperrt", "nicht vorhanden" oder "massenweise vorhanden, aber nicht überall zugänglich"? Und weiter: Wenn sie nicht vorhanden sind, warum wird dann gesucht, bisweilen sogar gefunden, manchmal - aber nicht immer - sogar weitergeleitet? Wenn sie aber nun doch vorliegen? Und gesperrt sind? Werden sie jetzt etwa "geöffnet"?

So will es zumindest Karl Diller, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Mitte letzter Woche gab er gegenüber der Frankfurter Rundschau sein klares "Ja" zur Öffnung der Akten. "Ja" hatte auch die Finanzministerkonferenz am 4. März gesagt, allerdings ein "Aber" nachgeschoben. "Wieso öffnen?", "was heißt denn gesperrt?" fragt hingegen Ilse Birkwald, Leiterin des Finanzamtes im ostwestfälischen Lemgo und Ko-Autorin der Dokumentation "Geschichte der Finanzverfassung und Verwaltung in Westfalen seit 1815 / Die Steuer- und Zollverwaltung und die Devisenstelle im Dritten Reich".

Verwirrt? Gut so. Es geht um Finanzämter und Finanzbeamte, die ebenso verwirrt sind. Behaupten sie zumindest. Denn ihre Rolle und Funktion im Nationalsozialismus, sagen sie, sei nun einmal nicht einfach gewesen. Noch schwieriger aber sei es, das Ganze heute, mehr als 50 Jahre später, zu begreifen. Auch Frau Birkwald sieht das so: "Nur wenige Zeitzeugen können und wollen reden", erklärt sie Jungle World.

Jene, die schließlich doch reden würden, hätten "sich keine Gedanken darüber gemacht" oder seien davon ausgegangen, "nichts Unrechtes" getan zu haben. Es sei ja alles gemäß dem geltenden Recht gewesen. Birkwald sagt auch, daß das stimme: "Alles ging nach den Gesetzen." Da mag auch Wolfgang Dreßen, Professor für Geschichte an der Fachhochschule Düsseldorf und Leiter der dortigen Arbeitsstelle Neonazismus, zustimmen: "Kaum ein Jude oder eine Jüdin wurde enteignet ohne einen entsprechenden Verwaltungsvorgang." Ansonsten stimmt der Nazismusforscher mit der Finanzrätin aber gar nicht überein.

Ilse Birkwald weiß nämlich nicht, warum das Bundesfinanzamt nun die Archive für alte Akten der Finanzämter öffnen will: "Die Akten sind doch in den Staatsarchiven zugänglich. Wer da forschen will, stellt einen Antrag, oder auch mehrere, und dann geht das." Dreßen weiß auch nicht so recht, wie die Offerte des Staatssekretärs Diller gemeint ist, denkt sich aber seinen Teil. Das sei ein Versuch zu "öffnen - und trotzdem nicht zu öffnen".

Das protokollierte Beratungsergebnis der Finanzministerkonferenz vom 4. März gibt Dreßen indirekt recht. Im Beratungsergebnis der Länderfinanzminister heißt es zwar, daß "noch vorhandene Unterlagen der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung zur Beschlagnahme und Verwertung von Vermögensgegenständen von Personen, die ab 1933 aus Deutschland ausgewandert sind oder deportiert wurden und die wegen entsprechender Vorschriften des NS-Regimes ihr Eigentum wegen der Auswanderung bzw. Deportation verloren haben, zur Geltendmachung noch ausstehender Restitutionsansprüche und zur wissenschaftlichen Forschung (...) zugänglich zu machen" seien. Doch müsse dabei auf die "geeignete Weise" geachtet werden.

Ein Antwortschreiben aus dem Bundesfinanzministerium auf die Anfragen einer Parlamentarierin von Bündnis 90/Die Grünen wird genauer: Es sei "der seriösen Wissenschaft und Forschung zu ermöglichen", die nötigen Unterlagen einzusehen. Allerdings nur "unter gewissen Auflagen": "Bei den einzuhaltenden Bedingungen geht es u.a. um die Verpflichtung, für den Fall der Veröffentlichung die Verfahrensbeteiligten zu anonymisieren, das Verbot der Anfertigung von Fotokopien und Filmmaterial sowie die Auferlegung einer Schweigepflicht (...)." Keinesfalls aber komme "die Zugänglichmachung der Rückerstattungsakten für die Öffentlichkeit (...) in Betracht".

Soll heißen: Ausgewählte Forscher dürfen ausgewählte Akten - vielleicht - sehen. Die Namen - mal kleiner, mal großer, immer aber deutscher Schnäppchenjäger - dürfen sie jedoch nicht veröffentlichen oder sonstwie weitergeben. Ein weiteres Antwortschreiben, datiert auf Anfang März, macht alles noch komplizierter: In den jeweiligen Landesfinanzverwaltungen müsse "in eigener Verantwortlichkeit entschieden werden, ob und inwieweit diese Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können". Auf jeden Fall aber seien "bei der weiteren Verwendung der Dokumente die Bestimmungen des Persönlichkeitsrechts, des Datenschutzes und des Archivgesetzes zu beachten".

Dreßen, der als Leiter einer Ausstellung von - nicht anonymisierten - Arisierungsdokumenten aus der Oberfinanzdirektion Köln von den Behörden gerügt wurde, bringt das Vorgehen der verschiedenen Finanzstellen auf den Punkt: Dies sei "ein Vorgang der vatikanischen Archive". Die Ämter würden "sich ein gutes Image geben" wollen, "ohne real etwas Entscheidendes zu verändern". Als Beispiel führt er das Bundesland Nordrhein-Westfalen an. Die Ankündigung aus Düsseldorf vom Ende des vergangenen Jahres, alle Akten zur Enteignung von Juden zu veröffentlichen, sei bis heute nicht umgesetzt worden.

Dies weiß auch Ilse Birkwald. Doch sie zieht andere Schlüsse: In den Staatsarchiven seien doch zumindest die "Wiedergutmachungsvorgänge" einzusehen, aus denen auch auf "Enteignungen rückgeschlossen werden könne". Auch plant sie im nordwestfälischen Münster gegen Ende des Jahres eine Ausstellung unter dem Motto "Das Unrecht der Finanzverwaltung". Mögliche Erkenntnisse aus Akten der Finanzbehörden zur Massenbasis im Nationalsozialismus - einfache "deutsche Volksgenossen" konnten die von Juden geraubten Vermögens- und Gebrauchsgegenstände für ein paar Mark ersteigern oder bekamen sie von den NS-Behörden zugewiesen (Jungle World, Nr. 7/99) - will die Finanzamtsleiterin jedoch nicht ziehen. "Ich denke dabei erst einmal an die Vorgänge in der Verwaltung und überlege immer wieder: Könnte das wieder passieren?"

Die Düsseldorfer Ausstellung von Wolfgang Dreßen sei "unspektakulär", sagt sie, und habe "nichts Neues" gezeigt. Überhaupt müsse man so etwas mehr "ausstellungspädagogisch angehen". Einfach nur Schautafeln mit Aktenvorgängen und Namen aufzustellen sei zu einfach, komplizierte Fragen ("Wie reibungslos funktioniert die Verwaltung?") blieben ausgespart.

Dafür freut sich Birkwald um so mehr über einen Fund in der südwestfälischen Provinzstadt Siegen. Der dortige Leiter des Finanzamtes, Hans Gerhard Selle, habe "jüngst", wie er der Siegener Zeitung berichtete, einen Hinweis auf ein "'Kästchen' mit losen Belegen" erhalten. Inhalt: Unterlagen der lokalen und regionalen Finanzämter aus der Zeit des Nationalsozialismus, die Auskünfte über Enteignungen von Juden und, wie die Siegener Zeitung weiter schreibt, "Zigeunern" geben.

Die Dokumente zeigen auch Umverteilungen auf: Kuchenbleche, Aquarien, Kartoffeln, Hühner, "82 Pfund Rauchfleisch" und "23 Konservendosen" werden Juden genommen und von Deutschen später ersteigert. Doch leider bleibt, im Gegensatz zu den von Dreßen in Düsseldorf ausgestellten Akten, die Aussage des neuen Funds begrenzt: Sowohl der jeweilige "Name des Einzahlers", also Ersteigerers der "Judenschnäppchen", als auch die Namen des Sachbearbeiters und "Steuerinspektors" sind geschwärzt. Oder "anonymisiert", wie es das Bundesfinanzministerium formuliert.