Demokratie als Schlüsselfrage

In bürgerlichen Rechten und Demokratie liegt der "berechtigte Kern des kurdischen Anliegens".

Wenige Tage nach der Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan kommentierte das halboffizielle Staatsorgan Hürriyet: "Welches Kurden-Problem? Es gibt ein Problem der Unterentwicklung Südostanatoliens, es gibt ein Verteilungsproblem, es gibt das Problem von Arbeit und Brot. Aber für ethnische Differenzierungen, für rassistische Hetze sind wir nicht zu haben." Wenn dieses vermeintlich antirassistische Bekenntnis einer Zeitung, die sich mit dem Motto "Die Türkei den Türken" schmückt, auch nur halbwegs den Tatsachen entspräche, die Linke könnte die PKK in der Rubrik Folklorismus einordnen und hätte tatsächlich allen Grund, sich von dieser völkischen, autoritären und tendenziell antisemitischen Vereinigung vollständig zu distanzieren.

Ursache des Konfliktes ist jedoch der türkische Nationalismus, und der Umstand, daß eine halbe Million Kurden in Deutschland leben, zwingt auch die hiesige Linke, sich sowohl zur Unterdrückung der Kurden in der Türkei und zum rassistischen Diskurs in Deutschland als auch zum Befreiungsnationalismus der PKK zu verhalten.

L.U.P.U.S konstatiert (Jungle World, Nr. 10/ 99), daß ein kurdischer Nationalstaat kaum über "den Austausch der Machteliten und die Einführung des Kurdischen als Amtssprache" hinausgehende gesellschaftliche Veränderungen bewirken würde. Die israelische Staatsgründung sei jedoch ein Beweis dafür, daß Nationalstaaten zumindest Schutz vor rassistischer Verfolgung böten.

In der Türkei herrscht jedoch kein biologistischer Rassismus, vielmehr sind diejenigen von Verfolgung betroffen, die als Unterstützer der PKK betrachtet werden und/oder eine, wie auch immer geartete, "kurdische Identität" öffentlich ausdrücken möchten. Davon abgesehen geht L.U.P.U.S' Fragestellung von der falschen Annahme aus, daß ein kurdischer Nationalstaat zur Debatte stünde. Dem stehen nicht nur internationale politische Konstellationen entgegen, auch die PKK ist in den letzten Jahren von dem Ziel eines eigenen Staates abgerückt und fordert eine innertürkische Lösung des Konfliktes.

Die richtige Erkenntnis, daß nationale Souveränität nicht zur sozialen Befreiung führt, zielt am Kern des Konfliktes vorbei. Denn die kurdische Frage, soweit sie eine "nationale" ist, kann, jenseits der Fiktion des "Selbstbestimmungsrechts der Völker", nur als eine Frage von Demokratie und Menschenrechten, als eine Frage von bürgerlicher Gesellschaft begriffen werden. Ihre Lösung kann deswegen keine soziale Befreiung sein, weil ihr Inhalt kein sozialer ist. Und soweit die kurdische Frage eine soziale ist, ist sie keine "nationale" Frage, also kein Problem, das mit Gründung eines Nationalstaates zu lösen wäre.

In der Türkei wurde, trotz Gründung der Republik, der Übergang vom Untertanen zum Bürger nur rudimentär vollzogen. Lebensbereiche, die in bürgerlichen Gesellschaften primär zur Privatsphäre gehören, wie Sprache oder Religionszugehörigkeit, sind unmittelbar staatliches Hoheitsgebiet. Dabei wird ein homogenes Staatsvolk halluziniert, das mit dem national definierten Staat untrennbar in Verbindung steht. Folglich sind alle Handlungen und Äußerungen, die, wie es im Anti-Terror-Gesetz heißt, "Haß und Feindschaft zwischen Klassen, Sprachen, Religionen und Konfessionen schüren", als Verbrechen gegen den Staat unter drakonische Strafe gestellt.

Diskriminiert und unterdrückt werden alle diejenigen, die sich nicht in das vorgegebene Bild fügen wollen oder können. Eine demokratische und friedliche Lösung des Kurden-Problems ist daher der Schlüssel für eine Überwindung des staatlichen Definitionsanspruches über individuelle Lebensbereiche und zugleich existentielle Bedingung für eine Entmilitarisierung und Zivilisierung von Staat und Gesellschaft, für eine Entmachtung des Geflechts zwischen Politik, Mafia und der faschistischen MHP (Graue Wölfe). Bürgerliche Rechte und parlamentarische Demokratie sind nicht viel, aber allemal besser als eine Militärdiktatur. Hierin liegt der "berechtigte Kern des kurdischen Anliegens".

Doch selbst die relativ bescheidenen Ziele einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage und einer Demokratisierung des Landes erscheinen derzeit alles andere als realistisch. Das Militär steht gefestigter als je zuvor und hat die Zustimmung großer Teile der Bevölkerung.

Natürlich würde eine, zur Zeit allenfalls als Resultat eines massiven Drucks von außen möglich erscheinende, politische Liberalisierung den kurdischen Flüchtlingen keine sozialen Perspektiven bieten (genausowenig, wie eine kurdische Staatsgründung dies könnte). Und es sind vor allem diese Flüchtlinge, die die soziale Dimension der kurdischen Frage bilden. Aber: Nicht alle Kurden leben in Elendsquartieren, und nicht nur Kurden sind von Armut betroffen. Eine friedliche Lösung der kurdischen Frage könnte dazu beitragen, die soziale Frage von ihrer derzeit nationalen und ethnischen Wahrnehmung zu lösen.

Für den kritischen und vernünftigen Teil der Linken in der Türkei bedeutet das, sich auf der Ebene des Kampfes um Demokratisierung mit der kurdischen Bewegung zu solidarisieren, ohne die völkischen Inhalte der PKK und ihre autoritären Strukturen zu billigen. Für die Linke in der Bundesrepublik ist die Schlußfolgerung ähnlich: Notwendig ist, sich gegen den rassistischen Konsens zu solidarisieren, der in den Kurden die Verkörperung des "nicht integrationswilligen, kriminellen Ausländers" sieht, und dabei weder die PKK zu mystifizieren noch sie einfach als nationalistisch zu verwerfen.