Trittins höhere Gewalt

Nichts als Ärger mit dem Atomstrom: Französische und britische Politiker, deutsche Nuklearmanager und Kernkraftgegner machen gegen den Grünenpolitiker mobil

Das Zauberwort heißt "höhere Gewalt". Nur die nämlich kann Jürgen Trittin derzeit vor einem Fiasko bewahren. Denn seit der Grünenpolitiker in Paris und London mit den neuesten Atomausstiegsplänen aus dem Bonner Umweltministerium hausieren geht, hat Trittin Ärger. Nichts als Ärger.

Weder seinen französischen noch seinen britischen Gesprächspartnern will so recht einleuchten, warum Verträge, einst abgeschlossen zwischen den Atommanagern der jeweiligen Staaten, innerhalb kurzer Zeit hinfällig und damit Milliardenumsätze der heimischen Industrie in den Wind geschossen sein sollten.

Die Konsequenz: Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens halten an ihren Schadensersatzforderungen fest. Sollte also das Recycling abgebrannter Kernbrennstäbe im Jahr 2000 verboten werden und die bislang vereinbarten Lieferung nach La Hague und Sellafield ausbleiben, müssen die deutschen Energieversorger das teuer bezahlen. In Frankreich rechnet man bei einem Rückzug der Deutschen bis zum Jahr 2010 mit Einnahmeausfällen von etwa neun Milliarden Mark. Die Kosten für die Rücknahme der Brennelemente und die Auszahlung der Wiederaufarbeitungsfirma British Nuclear Fuels würden sich auf etwa 1,4 Milliarden Mark belaufen. Zudem drohte der britische Industrieminister Stephen Byers damit, Großbritannien werde 650 Tonnen Atommüll zurückgeben, wenn Bonn am Stopp der Wiederaufarbeitung festhalte.

Der Ärger in den eigenen Reihen ist also schon programmiert: Wenn neben den Briten auch die Franzosen ihre An-drohungen wahrmachen und bei einem schnellen deutschen Ausstieg 3820 Tonnen atomaren Müll über den Rhein zu-rückschicken, muß Trittin mit Protesten von Kernkraftgegnern rechnen. Schließlich würden dann etwa 100 Castor-Transporte anfallen.

Verstimmung auch bei der Opposition: "Sie reisen durch Europa und er-klären, Sie seien die höhere Gewalt", schimpfte der CDU-Energieexperte Kurt-Dieter Grill in der letzten Woche über Trittin. Freidemokrat Günther Rexrodt kommentierte: "Das ist nicht höhere Gewalt, das ist plumpe Gewalt".

Über die Frage der Gewalt, insbesondere der "höheren", streiten sich zunächst die Juristen. Noch ist ungeklärt, ob das Verbot der Wiederaufarbeitung ab dem 1. Januar 2000, wie es in der Gesetzesvorlage der Regierung vorgesehen ist, völkerrechtliche Verpflichtungen verletzt. Jürgen Trittin bleibt bei seiner Begründung: In den Verträgen schließe "höhere Gewalt" , also auch eine Gesetzesänderung, eine Entschädigung aus. In London verweist man auf einen Notenwechsel aus dem Jahre 1991. Dort heißt es, beide Regierungen "erklären, daß sie keinerlei Initiative in Form von Gesetzen oder Verordnungen zu ergreifen gedenken, die die ordnungsgemäße Erfüllung der Verträge verhindern würde". Sechs Wochen lang soll es nun dauern, bis das Bundesjustizministerium den rot-grünen Gesetzesentwurf auf seine völker- und europarechtliche Tauglichkeit geprüft hat.

Bei den französischen Parteifreunden bestehen weniger Zweifel: "Die Deutschen können uns nicht ihre energiepolitischen Entscheidungen aufzwingen", beschwerte sich der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Frankreichs, Fran ç ois Hollande. Daß man im Nachbarland derzeit empfindlich auf die deutschen Ausstiegspläne zu sprechen ist, bekam Daniel Cohn-Bendit zu spüren. Bei seinem Besuch in La Hague wurde der EU-Spitzenkandidat der französischen Grünen nicht gerade freundlich empfangen. Stein des Anstoßes waren nicht nur die energiepolitischen Vorstellungen von "Dany le Vert". Dem KP-Chef Robert Hue galt der Europapolitiker als deutscher "Provokateur". Der ehemalige Innenminister Charles Pasqua kommentierte Cohn-Bendits Auftritt mit den Worten, einen echten Deutschen erkenne man daran, daß er alle 30 Jahre wiederkomme.

In Bonn ist man trotz der Aufregung zuversichtlich, eine Lösung mit Frankreich zu finden. Vorschläge gehen dahin, daß Cogema die langfristige Vorbereitung der Brennstäbe für die direkte Endlagerung übernehmen könnten. Allerdings gibt es Zweifel an den technischen Möglichkeiten dieser Konditionierung abgebrannten Materials: Nach Ansicht von Cogema ist die Anlage in La Hague dazu nicht in der Lage.

Zurück nach Deutschland. Hier gingen die Atomkonzerne noch zwei Tage vor Beginn der Energiekonsensgespräche auf Konfrontation. Ihre Forderungen: Mindestens noch fünf Jahre müsse die Regierung mit einem Verbot der Wiederaufarbeitung warten. Alternativ forderten sie, Bonn müsse "rechtsverbindlich" sicherstellen, daß "jährlich rund hundert Castor-Transporte mit abgebrannten Kernbrennstäben aus den deutschen Atommeilern in die Zwischenlager Ahaus und Gorleben rollen können".

Trittin blieb hart: Der Umweltminister will an seiner Atomgesetznovelle und am Zeitpunkt 1. Januar 2000 für das Verbot der Wiederaufarbeitung festhalten. Kanzleramtsminister Bodo Hombach (SPD) ließ dagegen schnell wissen, der genaue Zeitpunkt sei lediglich eine Ausgangsposition. Der Kanzler selbst suchte gleich das Gespräch mit der Atomindustrie - wieder ohne seinen Umweltminister.

Die Atomlobby geht offenbar trotz dieser Liebesbeweise der Sozialdemokraten auf Nummer Sicher. Greenpeace zufolge verhandeln deutsche Konzerne über den Transport von Atommüll nach Rußland: Aus geheimen Dokumenten, die der Umweltorganisation vorliegen, gehe hervor, das russische Atomministerium Minatom biete "weltweite Entsorgungsleistungen" mit einem Gesamtvolumen von zehn Milliarden US-Dollar.

In Anlehnung an die Schweiz, wo entsprechende Planungen schon weiter gediehen sind, könnte dann der deutsche Atomschrott bis zum Jahr 2030 in der ehemals geheimen Stadt Tscheljabinsk-65 verschwinden.