Vor dem technischen K.o.

Der türkische Premier Mesut Yilmaz sieht dem vorzeitigen Ende seiner Amtszeit entgegen

Einige Tage vor seinem voraussichtlichen Sturz hat sich der angeschlagene türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz noch einmal Rückendeckung verschafft. Allerdings nur in seiner Partei. Auf einem Sonderparteitag wurde er am Samstag mit überwältigender Mehrheit als Vorsitzender der konservativen Mutterlandspartei (Anap) bestätigt.

Auf parlamentarischer Ebene allerdings sieht es düster für ihn aus. Wegen Yilmaz' angeblicher Verstrickung in eine Mafia-Affäre (Jungle World, Nr. 47/98) haben 311 Abgeordnete Mitte vergangener Woche für einen Mißtrauensantrag gegen die Yilmaz-Regierung votiert, bei lediglich 213 Gegenstimmen. Nachdem sich auch die bislang tolerierende sozialdemokratische CHP von Deniz Baykal in dieser Abstimmung gegen Yilmaz gewandt hat, sind dessen Tage als Regierungschef gezählt.

Das hinderte ihn nicht daran, auf dem Anap-Sonderparteitag kräftig gegen Italien zu polemisieren, wo PKK-Chef Abdullah Öcalan am Freitag unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden war. Sollte Italien Öcalan nicht ausliefern, werde die Türkei um eine Antwort nicht verlegen sein, meinte Yilmaz drohend. Am Sonntag schloß Ankara italienische Firmen von Ausschreibungen der türkischen Armee aus. Zuvor waren bei Razzien schon 700 Mitglieder der prokurdischen Hadep-Partei verhaftet worden.

Auch zur Regierungskrise äußerte sich Yilmaz vor seinen Parteigängern deutlich: "Die einzigen, die vom Sturz der Regierung profitieren, werden die Banden und Verbrecher sein." Aber Yilmaz' Image als Saubermann ist mehr als angekratzt.

Und das nicht erst, seit sein Staatsminister Eyüp Asik kürzlich aus dem Amt katapultiert wurde (Jungle World, Nr. 40/98). Der in Frankreich inhaftierte Mafioso Alaatin Çakici hatte einen Tonbandmitschnitt, auf dem Çakici mit Asik telefonierte, in der türkischen Presse lanciert. Und es gilt als ziemlich sicher, daß der türkische Geheimdienst auch noch ein Tonband in der Hinterhand hat, auf dem Yilmaz mit Çakici plaudert.

Als Yilmaz Ende vergangenen Jahres die Koalitionsregierung von Tansu Çillers Partei des rechten Weges (DYP) und der islamistischen Wohlfahrtspartei abgelöst hatte, verspottete ihn seine Erzrivalin und Vorgängerin Çiller als "den Gefreiten aus Istanbul". Nur zu offensichtlich stand der von den Militärs dominierte "Nationale Sicherheitsrat" hinter dem Sturz der Çiller-Erbakan-Regierung. Die islamistische Wohlfahrtspartei wurde verboten, Çiller blieb zwar weiterhin Parteivorsitzende der DYP, ihr politischer Einfluß wurde allerdings weitgehend durch Korruptionsvorwürfe und die Verstrickung ihrer Regierung mit der Mafia neutralisiert.

Mit Mesut Yilmaz wurde ein Mann Ministerpräsident, dessen Partei nur drittstärkste Fraktion in der türkischen Nationalversammlung ist, der jahrelang nicht aus dem Schatten seines 1993 verstorbenen Vorgängers Turgut Özal heraustreten konnte und sich trotzig gegen eine Fusion der - politisch fast identischen - DYP und der Anap sträubte. Kurz und gut: ein profilloser, übellauniger Mittelmaßpolitiker, der sein Amt nur den Skandalen der anderen und der Protektion der Generäle verdankte?

So sahen viele Mesut Yilmaz - bis zu dem Augenblick, als seine angeblichen Verbindung zu dem in Nizza inhaftierten türkischen Mafioso Alaatin Çakici an die Öffentlichkeit drangen.

Bislang galt Çiller als geheime Oberpatin. In ihrer Partei sitzen noch immer eine Fülle von ehemaligen Polizeichefs und Staatsbürokraten, die in ihrer Amtszeit aus dem sogenannten Antiterrorkampf gegen die kurdische PKK und andere Regimegegner ein lukratives Geschäft machten. Verschiedene Teams bei der Polizei, dem Militär und dem Geheimdienst MIT führten in Zusammenarbeit mit der Mafia Einsätze im In- und Ausland aus: Die Mafiosi erledigen die Dreckarbeit - Anschläge auf Oppositionelle oder untreue Geschäftspartner, Erpressungen, internationale Drogen- und Waffengeschäfte -, die Staatsbürokraten und Politiker horten Reichtümer auf geheimen Konten im Ausland: Çiller vor allem in den USA, ihre frühere rechte Hand, der ehemalige Polizeichef und spätere Justiz- und Innenminister Mehmet Agar, auf Zypern und in Frankreich.

Aufgeflogen waren diese Geschäfte durch einen simplen Verkehrsunfall: Bei der westanatolischen Stadt Susurluk verunglückten ein Abgeordneter der damaligen Regierungspartei DYP, ein ehemaliger Polizeichef und der international gesuchte Drogenhändler und Mörder Abdullah Çatli gemeinsam. Bei Çatli fand die Polizei damals einen auf einen falschen Namen ausgestellten echten Pass, der ihn als Beamten auswies: Trotz Interpolfahndung konnte er so jahrelang ungestört reisen. Und der Mafioso Çakici, dessen Affären nun Yilmaz in Bedrängnis bringen, war bei seiner Festnahme in Frankreich im Besitz eines auf einen falschen Namen ausgestellten echten Diplomatenpasses.

An diesen Strukturen änderte auch die Regierung unter Yilmaz nichts, der in seiner Oppositionszeit immer wieder vollmundig erklärt hatte, daß er mit der Mafia aufräumen werde. Eigentlich war schon bei seinem Amtsantritt klar: Mesut Yilmaz wurde mit Informationen des türkischen Geheimdienstes MIT gefüttert, die er dann portionsweise der Öffentlichkeit mitteilte.

Der militärische Geheimdienst und damit auch die Generäle wollten den Schaden, der durch den Unfall und die Aufdeckung eines Teils der Struktur der Kontraguerilla entstanden war, möglichst gering halten. Und so mußte man diese Struktur in offiziellen Stellungnahmen auf einige Leute beschränken, die ohnehin bereits geoutet waren. Auf Çatli etwa.

Mesut Yilmaz behauptete immer, mit Abdullah Çatli nichts zu tun gehabt zu haben. Interessant waren in dieser Hinsicht die Aussagen seiner Parteifreunde. Yilmaz-Berater Abdülkadir Bas äußerte, man müsse vorsichtig sein, Çatli als Terroristen zu titulieren, denn Çatli würde in der Öffentlichkeit sowohl als Terrorist als auch als Patriot gehandelt.

Die Anap-Abgeordneten Gökhan Maras und Sadi Çarsancakli sprachen sogar vom einem Zusammentreffen Çatlis und Yilmaz'. Demnach nahm Çatli 1991 an einem Anap-Kongress in Ankara teil und sorgte für eine Lobby der radikalen Nationalisten innerhalb der Anap. Gleichzeitig war Çatli ein enger Freund des 1994 getöteten ehemaligen Anap-Abgeordneten Alparslan Pehlivanli, einer der Rechtsberater von Mesut Yilmaz.

Auch der heutige Anap-Generalsekretär Yasar Okuyan soll öfters mit Çatli zusammengetroffen sein. Okuyan, wie Çatli ehemaliger Jugendführer der faschistischen Grauen Wölfe, sagte gegenüber der Tageszeitung Yeniyüzyil nach dem Susurluk-Unfall, daß die Grauen Wölfe - anders als die linken Gruppierungen, die nach dem Septemberputsch 1980 zerschlagen, exiliert und eingesperrt wurden - später zumeist entweder Mafiastrukturen bildeten oder in die Politik gingen. Seit Çillers Amtszeit sei die Zahl der Mafiaringe gestiegen, die Anti-Terror-Politik orientiere sich mehr an Mafiastrukturen, behauptete er. Tatsächlich aber ist das eine Tradition, die bereits seit den sechziger Jahren existiert und nach dem Militärputsch in Turgut Özals Amtszeit weiter perfektoniert wurde.

Welche Blüten auch immer die mafiotische türkische Politik treiben wird: Es ist bereits beschlossene Sache, daß die Regierung Yilmaz sich spätestens am Mittwoch dieser Woche nach dem Vertrauensvotum auflösen wird. Dann beginnt das Regierungsbildungsspiel von neuem: endlose Koalitionsgespräche und eine lahmgelegte Regierung.

Die islamistische Nachfolgepartei von Erbakans Wohlfahrtspartei, die Tugendpartei, wird Staatspräsident Süleyman Demirel vermutlich trotz ihrer Mehrheit im Parlament nicht mit der Regierungsbildung betrauen. Die übrigen Oppositionsparteien haben bereits verkündet, daß sie an der Besetzung des Ministerpräsidentenstuhls durch ihre Fraktionen kein Interesse haben. Auch Yilmaz' Koalitionspartner Bülent Ecevit steht nicht zur Verfügung.

Keiner will den Job - außer vielleicht Çiller, der zur Zeit wieder unangenehme Prozesse wegen ihres mysteriösen Reichtums ins Haus stehen. Aber ihr einstiger Mentor, Süleyman Demirel - und damit die Generäle - wollen sie nicht. Sie hat sich innerhalb der Koalition mit den Islamisten als störrisch erwiesen und sieht sich inzwischen als Mutter der vom Universitätsbesuch ausgeschlossenen Frauen in islamischer Bekleidung.

Es bleibt also mit Spannung zu erwarten, wer in die Bresche springen muß. Sollte Staatspräsident Demirel einen Ministerpräsidenten als Chef einer Regierung der "nationalen Front" - also einer großen Koalition aller Parteien - wäre die Expertokratie komplett.