Christian Stolzenburg

»Thierse erkennt man am geduckten Gang«

Die Betten der Dienstvilla des Bundestagspräsidenten in Berlin-Schmargendorf bleiben leer, die 640 Quadratmeter Nutzfläche werden nur noch für Repräsentationstermine des Präsidiums genutzt. Ob die Nobelabsteige, die seine Vorgängerin Rita Süßmuth ausgewählt und umbauen hat lassen, Wolfgang Thierse nicht gefallen hat? Die Kneipiers vom Prenzlauer Berg in Berlin können sich jedenfalls freuen. Ossibär Thierse, der frisch rasiert plötzlich das zweithöchste Amt im Staate bekleidet, bleibt am Kollwitzplatz in seiner Dreieinhalbzimmer-Wohnung mit großer Küche wohnen. Der Bundestagspräsident, in Personalunion offensichtlich Superminister für Bodenständigkeit, kauft auch weiterhin billigen Rotwein im Lebensmittelgeschäft, wie ein Nachbar weiß, und betrinkt sich nach wie vor in der Kneipe um die Ecke mit den Jungs von nebenan. Ein Gespräch mit Christian Stolzenburg, dem Wirt von Thierses Stammlokal "1900".

Hierher kommt also der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, wenn er sich ordentlich einen in die Birne kippen will?

Der kommt eigentlich mehr zum Essen. Wir sind ja hauptsächlich ein Speiselokal und der Herr Thierse kommt hier regelmäßig mit seiner Familie zum Essen. Der ißt dann mal ˆ la carte, mal eines unserer Tagesangebote, das ist ganz unterschiedlich, z.B. Lachsfilet auf Blattspinat mit Basmatireis und Shrimpssoße oder geschmorte Entenbrust mit Apfelrotkohl und Klößen, aber ein richtiges Lieblingsessen hat er gar nicht. Natürlich wird aber auch getrunken. Der Herr Thierse trinkt dann immer ein Bier dazu.

Nicht mehr?

Nee, also übermäßigen Alkoholkonsum kann man ihm wirklich nicht unterstellen. Das spielt sich in völlig normalen Bahnen ab.

Der Wirt von der Kneipe gegenüber behauptet, er hätte den Vize-SPD-Vorsitzenden einmal seines Lokales verweisen müssen, weil er zuviel getrunken hatte.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Mir ist so etwas jedenfalls nicht bekannt.

Wolfgang Thierse bleibt ihnen jetzt als Gast erhalten, weil er nicht in die Dienstvilla des Bundestagspräsidenten umziehen will.

Ich finde es gut, daß er hier wohnen bleibt. Nicht, weil ich sonst einen prominenten Gast verloren hätte, sondern weil es doch zu Ostzeiten immer so war, daß die Politiker woanders gewohnt haben. Draußen in Wandlitz zum Beispiel. Warum sollte ein Politiker denn nicht am Kollwitzplatz wohnen bleiben, das ist doch eine schöne Ecke hier.

In einer Villa mit einem halben Hektar Garten läßt es sich sicher auch ganz angenehm leben. Trotzdem bleibt Mister Ostdeutschland hier wohnen - ein Indiz für Bodenständigkeit und demonstrativer Verbundenheit mit der arbeitenden Klasse oder doch nur aufgesetzte Bürgernähe?

Ich finde das speziell bei ihm überhaupt nicht aufgesetzt. Das ist für mich vielmehr ein Zeichen, daß er sich zum Osten und speziell zum Prenzlauer Berg bekennt. Aufgesetzt ist das deswegen auch auf keinen Fall, weil er ja schon früher die Möglichkeit gehabt hätte, seine Wohnung zu wechseln, bevor er Bundestagspräsident geworden ist. Er ist ja schon länger SPD-Vize, und ich glaube, wenn er gewollt hätte, hätte er auch damals schon eine andere Wohnung bekommen. So wie ich ihn kennengelernt habe, ist er wirklich sehr bodenständig, sehr offen. Er weiß, was der einfache Mann will, und man kann mit ihm über alles reden.

Das heißt, Sie versuchen, ihn nach ein paar Drinks politisch zu beeinflussen?

Quatsch. So gut kennen wir uns ja nun auch wieder nicht, und wenn der Thierse mal hier ist, dann ist er ganz Privatmensch, da spielt die Politik keine große Rolle. Außerdem habe ich Ihnen doch gesagt, daß er eigentlich immer nur ein Bier trinkt.

Schade. Das hätte ein Höhepunkt des investigativen Journalismus werden können. In Ordnung, der Bundestagspräsident ist also weder Alkoholiker noch in Mafiageschäfte verwickelt, sondern ein ganz normaler Mensch ohne große Ecken und Kanten.

Genau. Der läuft hier immer über den Kollwitzplatz, so wie jeder andere auch. In dem Sinne ist er wirklich keine besondere Person.

Trotzdem ist er nach Bundespräsident Roman Herzog der höchste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland - noch vor Gerhard Schröder. Sicherheitskräfte hatten offensichtlich ehrhebliche Bedenken gegen den Verbleib in der alten Wohnung. Wie das Apartment im zweiten Stock geschützt werden soll, wollte die Polizei freilich nicht verraten. Die patrouilliert erst einmal verstärkt vor dem Gebäude. Stört Sie das?

Polizei am Prenzlauer Berg ist ja eigentlich nichts Ungewöhnliches. Deswegen ist mir bisher auch gar nicht aufgefallen, daß die jetzt hier bei uns öfter vorbeischauen.

Hat Wolfgang Thierse denn seit seiner Wahl überhaupt schon mal wieder bei Ihnen gegessen?

Da muß ich jetzt mal überlegen. Also, wenn ich mir das genau überlege, war er seither gar nicht mehr hier. Andererseits bin ich ja auch nicht immer da und er meldet sich ja auch nicht vorher an oder fährt hier mit einer Staatskutsche vor.

Vielleicht haben Sie ihn auch nicht erkannt. Der struwwelpetrige Ossibär ist schließlich bei der Wahl zum Parlamentspräsidenten nicht ganz ungeschoren davongekommen.

Den würde ich immer erkennen. Der lebt schließlich schon fast zehn Jahre hier und so verändert, wie Sie das jetzt behaupten, hat er sich auch nicht. Sicher, der Bart und die Frisur sind jetzt sehr ordentlich und er wirkt plötzlich viel staatsmännischer, aber es wäre doch nicht normal, wenn er sich überhaupt nicht verändern würde. Außerdem läuft er immer noch so leicht geduckt durch die Gegend, woran man ihn sofort erkennt.

In der politischen Landschaft kann man wahrlich lange nach einem zweiten Thierse suchen. Bisher zumindest wirkte er im Fernsehen doch eher wie ein Relikt aus vergangenen Tagen.

Der bekennt sich eben zu dem, was er ist. Er ist Ossi, ich bin auch Ossi. Das ist doch einer seiner Vorteile, daß er nicht versucht, jemand anderes zu sein, nur weil jetzt die deutsche Einheit da ist.

Über den Mann gibt es offensichtlich nichts Negatives zu sagen. Alle sind voll des Lobes über ihn. Wie erklären Sie sich dann, daß er bei der Bundestagswahl den Wahlkreis Prenzlauer Berg/Mitte dennoch an die ja weit weniger bekannte Petra Pau von der PDS verloren hat?

Das kann ich mir wirklich nicht erklären. Ich kenne die Frau überhaupt nicht, deswegen weiß ich auch nicht, was die für Vorzüge hat. Ich selbst habe SPD gewählt. Hier ist jetzt die Frau Pau gewählt, und ich muß das akzeptieren, auch wenn ich sie nicht sonderlich mag. Ich kenne auch das Programm der PDS nicht, trotzdem verteufele ich sie nicht so, wie das im Westen immer wieder geschieht. Das ist für mich inzwischen eine ganz normale Partei, nicht nur für Wendeverlierer.

Und selbst? Rechnen Sie sich zu den Wendegewinnern oder eher zu den Einheitsverlierern?

Für mich ist das alles positiv verlaufen. Ich hatte meine Kneipe hier zwar schon vor 1989, aber seither läuft sie besser. Ich bin zufrieden, daß alles so gekommen ist.