Ganz entspannt im Legoland

Absolut ungefährliche Orte I: In der "Freistadt" Christiania gehen die Uhren seeehr langsam

Aus Projekten werden Betriebe, aus linken Betriebsräten skrupellose Unternehmer und nicht selten werden aus besetzten Häusern schnieke Ikea-Domizile.

Auch dem seit 1971 besetzten Christiania-Gelände in Kopenhagen droht die Etablierung. Einige ResidentInnen bauen sich kleine Paläste mit Seeblick, andere lassen sich von der einst verhaßten Stadtverwaltung eine Ölheizung einbauen, andere nutzen ihren Wohnsitz in der Hippie-Stadt nur noch als Wochenendhaus im Grünen. Daß es nach 27 Jahren auf dem ehemaligen Kasernengelände im Südosten Kopenhagens dennoch sehr beschaulich zugeht, daß die Anpassung so langsam vor sich geht, hat vor allem einen Grund: Dope.

Sid vom Infobüro in der Pusher Street erzählt: "Hier kiffen eigentlich alle von morgens bis abends. Wir haben immer tolle Ideen, aber die Umsetzung ..." 1988 habe man beschlossen, die marode Brücke, die einzige, die über das Christiania-eigene Gewässer führt, zu erneuern. Zehn Jahre sei jeden Monat Geld für das Projekt abgezweigt worden. Und jetzt, 1998, nach zehn Jahren, sei die neue Brücke eingeweiht worden.

So geht es mit vielen guten Vorsätzen. Nicht nur das komplexe Selbstverwaltungssystem, durch das die offiziell 650, meistens aber bis zu 1 000 BewohnerInnen über die Belange Christianias mitentscheiden, läßt eine gewisse Trägheit bei der Entwicklung des Projekts aufkommen. Auch das Haschisch, daß hier in der Pusher Street ganz offen verkauft wird.

Wie auf einem westdeutschen Weihnachtsmarkt steht Bude an Bude. Angeboten wird - offen ausgestellt wie anderswo Duftlampen oder Holz-Marionetten - alles, was das Kifferherz begehrt: Standard- und Super-Marok, Spezial Nepal, Afghane, Schwarzer aus Usbekistan, Pollen, Gras, fertig gedrehte Joints für 20 Kronen (gut fünf Mark). Dazu das ganze Zubehör von Blättchen bis zur Pfeife. Die Preise liegen mit zwölf Mark das Gramm knapp über denen des deutschen Schwarzmarktes. Für bessere Ware deutlich darüber.

Das Christiania-Gelände ist groß, hat die Ausmaße eines ganzen Stadtteils. Weit über 60 Läden, Werkstätten, Kneipen, Restaurants, Kindergärten und Veranstaltungsräume haben sich rund um die idyllische Wasserstraße angesiedelt. Bob Dylan und Rage Against the Machine gaben hier Konzerte. Christianias "Pedersen"-Fahrräder werden selbst in Kreuzberger Biker-Läden verkauft. Dennoch dürfte das Dope-Geschäft mit einem geschätzten Jahresumsatz von 50 Millionen Mark der Hauptwirtschaftsfaktor in der "Freistadt" sein. Kein Wunder, daß der auf die Pusher Street begrenzte Haschhandel den ResidentInnen vorbehalten ist.

Auch 27 Jahre nachdem das Gelände in den Hochzeiten der Hippie-Bewegung 1971 besetzt wurde, will sich die Kopenhagener Regierung mit dem freien Markt noch immer nicht abfinden. "Erst letzte Woche war die Polizei wieder hier", berichtet Sid. Mit einer knappen Hundertschaft. In neun von zehn Fällen stürmen die Beamten das Gelände, um Haschisch-Händler auf frischer Tat zu erwischen. Meist mit wenig Erfolg: "Das erfährt man hier rechtzeitig." Ist die Hundertschaft dann da, ist die sonst sehr belebte Pusher Street plötzlich wie leergefegt.

Auch wenn die Idylle noch heute regelmäßig von der Staatsmacht gestört wird - es gab schon anstrengendere Zeiten für die BewohnerInnen. Im Spätsommer 1992 hatte das Justizministerium den Haschverkäufern den Krieg erklärt. Die Aktion "Drogenfreies Christiania" nahm ihren Lauf. Beinahe täglich tummelten sich bewaffnete Polizisten in Kampfanzügen auf dem Gelände. Die BewohnerInnen wurden mit Tränengas eingenebelt, Steine und Rauchbomben flogen. Einmal sprang eine Spezial-Einheit aus einem Umzugswagen, der mitten auf der Pusher Street gehalten hatte. Sid spricht von einem police-playground: "Die nutzen Christiania, um zu üben."

Nach knapp zwei Jahren hatten auch die Dealer die Schnauze voll. Mit einem fünftägigen Streik gaben sie im März 1994 ihrer Forderung Nachdruck, das Haschischgeschäft auf dem Gelände zu legalisieren. Bestreikt wurde freilich nur der Handel in Christiania selbst. Im Stadtgebiet Kopenhagens erlebte das Geschäft in diesen Tagen zum Ärger der Polizei einen regelrechten Aufschwung. Der Status quo besteht bis heute: Innerhalb der Grenzen Christianias bleibt der Verkauf illegal, die Rauschgiftfahnder können dem Handel jedoch immer noch nicht Paroli bieten.

Die ChristianierInnen, von denen nur noch 30 bis 50 "Veteranen" zur ersten Generation gehören, haben also reichlich Erfahrungen im Umgang mit der dänischen Staatsmacht gesammelt. Auch früher schon, als es noch um mehr als den Haschischhandel ging. Schließlich sollte die "Freetown" mehrmals geräumt werden. Und immer wieder konnten sich die Freaks, Hippies und Alternativen durchsetzen.

1976 mobilisierten die ChristianianierInnen gar eine kleine "Rainbow Army", um dem angekündigten Räumungskommando zu trotzen. Jede Arbeitsgruppe hatte ihre eigene Klamottenfarbe: Rot für Aktionen außerhalb des Geländes, Grün für Logistik, Blau für Öffentlichkeitsarbeit.

Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Wäre da nicht der ungeliebte Drogenhandel, die Polizei hätte nur noch wenig Grund, die Ruhe im alternativen Dörfchen zu stören. Die BewohnerInnen haben sich 1989 mit den Behörden darauf geeinigt, den Weg der "Normalisierung" Christianias zu beschreiten.

Damals legalisierte das dänische Parlament die Gemeinde und verabschiedete ein Gesetz über den "Freistaat". Seither müssen nun beispielsweise die kleinen Betriebe und Kneipen Lizenzen vorweisen und nicht nur in die eigene Gemeinschaftskasse, sondern auch an den Staat Steuern zahlen. Und natürlich müssen die Gesetze geachtet werden. Im Gegenzug leben die ChristianierInnen nicht mehr mit der Angst, eines Tages von ihrem Idyll nahe dem Zentrum Kopenhagens vertrieben zu werden.

"Viele, die hier leben, lehnen bis heute diesen Deal ab", schimpft Sid, der damals gerade in die "Freetown" gezogen war, nachdem sein vorheriges Domizil, ein besetztes Haus im Szeneviertel N¿rrebro, geräumt worden war. Sid: "Mit der Legalisierung haben wir ohne Not einen Teil unserer Autonomie eingebüßt." Er befürchtet eine weitere "Normalisierung", die den Freiraum zunehmend einschränkt.

Darüber, was "normal" ist, streiten sich freilich die Geister. Es gibt in Christiania beispielsweise völlig normale Kneipen, wie man sie auch in Neukölln, dem Prolo-Bezirk in Berlin, findet. Im rustikal-spießigen Nemoland etwa sitzen am Tresen Alkis vor ihrem Bier, im Nebenraum stehen Jugendliche um einen Billardtisch herum, hinten blinken und piepen Spielautomaten. Im schicken Café MŒnefiskeren hingegen trifft man StudentInnen und KünstlerInnen, zeitgeistgerecht gestylt. Ganz normal also. Die Tatsache allerdings, daß diese normalen Lokale mit all diesen normalen Menschen in der Freak-City Christiania liegen, ist alles andere als normal.

Auch die Stadtverwaltung, so sehr sie sich bemüht, das Gelände als einen normalen Stadtteil Kopenhagens zu betrachten, ist weit vom Normalzustand im Umgang mit Christiania entfernt. So haben zum Beispiel alle 650 ordentlich gemeldeten BewohnerInnen, von denen rund die Hälfte keinen dänischen Paß besitzt, eine einzige Adresse.

Das bietet natürlich Menschen Schutz, die sich nicht unbedingt dem Zugriff der Staatsmacht ausliefern wollen - aus welchen Gründen auch immer. Sid: "Wenn ich draußen von den Cops nach meiner Adresse gefragt werde, sage ich einfach BŒdsmandsstr3/4de 43. Das stimmt, und es nutzt ihnen trotzdem nichts, weil sie nicht die leiseste Ahnung haben, in welchem Haus ich wohne."

Daß man sich in Kopenhagen und in Dänemark mit Christiania abgefunden hat, stimmt und stimmt nicht. Einerseits wissen die Verantwortlichen, daß die Hippie-Siedlung wahrlich keine Brutstätte linksradikalen Terrors ist. Und die Repression gegen Heroin ist auch innerhalb Christianias nicht zu verkennen: Dem Schild "No hard drugs" begegnet man auf Schritt und Tritt. Der Cannabis-Handel läßt sich sowieso nicht verhindern, so ist er zumindest unter Kontrolle. Trotzdem wird es für die "Freetown" nicht leichter werden.

Einheitliche Standards innerhalb der EU werden die dänische Regierung früher oder später zu einem rigideren Umgang zwingen. Und bei dieser Entwicklung ist keine Trägheit zu erwarten. In Brüssel wird nicht so viel gekifft.