Das zuckende Vakuum

Auch ohne Regierung setzt sich das russische Rundum-Desaster fort

Zwar war Viktor Tschernomyrdin als Ministerpräsident bei der ersten Abstimmung in der Duma, dem machtlosen russischen Parlament, mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Aber das hinderte ihn nicht daran, Ende vergangener Woche schon einmal sein Wirtschaftsprogramm vorzustellen, mit dem er das russische Rundum-Desaster entschärfen will: Eine waschechte "Wirtschaftsdiktatur" hat der Premier in spe ab Januar 1999 angekündigt, und zuvor will er die Notenpresse in Gang setzen, um seit Monaten überfällige Lohn- und Soldzahlungen durchzuführen.

Letzte Woche fehlten ihm nur noch zwei Dinge, um seine Pläne in die Tat umsetzen zu können: eine Regierung und die Zustimmung der störrischen Duma zu seiner Präsidentschaft.

Zur Regierungsbildung hat Rußlands angeschlagener Präsident Boris Jelzin einen ersten Beitrag geleistet. Mitte vergangener Woche konnte er, glaubt man der FAZ, "den Fragen der Journalisten im Großen und Ganzen folgen". Und offensichtlich nutzte Jelzin die Gunst der Stunde, um den gerade erst im Parlament durchgefallenen Tschernomyrdin aufzufordern, "unverzüglich" mit der Regierungsbildung zu beginnen.

Die Form der Aufforderung ist man von Jelzin gewohnt - per Dekret, wie es sich für eine ordentliche Präsidialdiktatur gehört. Auf die gleiche Weise ernannte er einige Minister, die schon zur vorherigen Regierung gehört hatten: Außenminister Jewgenij Primakow, Innenminister Sergej Stepaschin, Verteidigungsminister Igor Sergejew und den stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Fjodorow. Fjodorow hat sich als Chef der Steuerbehörde eine eigene, gut bewaffnete Sturmtruppe geschaffen - die sogenannte Steuerpolizei. Als Anerkennung für seine Arbeit wurde er vor kurzem zum Vize-Ministerpräsidenten befördert.

Es ist kein Zufall, daß die Ernannten de facto alle den Gewaltministerien vorstehen. In einer Situation, in der nur noch der Mechanismus funktioniert, der die Krise ständig verschärft, entscheidet die Initiative. Die alte Regierung geschaßt, eine neue noch nicht installiert: Ein solches Machtvakuum muß schnell gefüllt werden - und sei es nur durch loyale bewaffnete Verbände.

Zugleich war die Minister-Ernennung per Dekret ein Affront für die von Nationalisten und sogenannten Kommunisten beherrschte Duma. Erst am Wochenende davor hatte Genadij Selesnjow, der sozialdemokratisierte Duma-Vorsitzende der KP, einen Kompromiß zwischen Duma, Tschernomyrdin und Jelzin aushandeln wollen. Der Waffenstillstand sollte bis 1999 halten, kam aber nicht einmal bis zur Ausrufung. Beinhalten sollte er hauptsächlich zwei Dinge: zum einen die Beschneidung der Rechte von Präsident Jelzin, der sich 1993 eine Verfassung auf den Leib hatte schneidern lassen, mit der er Parlament und Opposition dauerhaft entmachten konnte; zum andern einen gewissen Einfluß der KP auf die Wirtschaftspolitik.

Die KP hat zur Rettung des russischen Kapitalismus mittlerweile ein wirtschaftliches Programm eigener Art entwickelt: Rubelchen drucken, um Löhne, Renten, Sold und Gehälter zahlen zu können, spielt darin ebenso eine zentrale Rolle wie Verstaatlichungen. An diesem Punkt treffen sich ihre Interessen partiell mit denen Tschernomyrdins. Der steht für den russischen Erdgasmonopolisten Gazprom, auf dessen Zerlegung und Aneignung westliche Investoren scharf sind, und für das in den Tycoons personifizierte und von westlichen Konkurrenten bedrohte russische Kapital.

Aber die KP ist nicht homogen. Ein Teil hat sich sozialdemokratisiert, ein anderer ist ungebrochen stalinistisch geblieben. Der größte Teil um Sjuganow vertritt eine nationalistisch-staatsinterventionistische Option. Die beiden letzten Fraktionen wollen Jelzins Kopf, und KP-Chef Sjuganow hat schon angekündigt, die KP werde "auf keinen Fall" Tschernomyrdin - Jelzins Wunschkandidat - in der Duma als Ministerpräsidenten bestätigen. Am Wochenende offerierte Jelzin der KP ein Treffen am Runden Tisch, noch bevor am Montag in der Duma abgestimmt werden sollte. Dem Parlament bot er ein Recht zur Bestätigung von Ministern an - ausgenommen davon sind natürlich die für die Außenpolitik und die bewaffneten Organe Verantwortlichen.

Die KP kann Jelzins Präsidentschaftskandidaten dreimal ablehnen und damit auf Neuwahlen setzen, in der Hoffnung, von der zunehmenden Unruhe in der Bevölkerung zu profitieren. Ihr Einsatz im Spiel um die Macht ist ein landesweiter Protesttag am 7. Oktober, möglicherweise mit Generalstreik. Der Druck aus der ständig verarmenden Bevölkerung wächst - der Rubel befindet sich im freien Fall, die Preise schnellen nach oben. Letzte Woche wurden bei sechs Banken die Sparguthaben bis Mitte November eingefroren, und die Inflationsrate ist auf offiziell 15 Prozent angewachsen.

Die KP wird deshalb aufpassen müssen, die Kontrolle über die Unzufriedenen nicht zu verlieren. Die russische Zeitung Kommersant Daily titelte Mitte vergangener Woche schon: "Sjuganow ist bereit zum Krieg". Aber das ist Panikmache. Der Kurs der KP ist konfrontativ, bewegt sich jedoch im Rahmen des demokratischen Machtkampfs. Er zielt - zumindest im Moment - nicht auf eine bewaffnete Machtübernahme. Realistischer scheint der russische Tycoon #Boris Beresowskij zu sein. Der hat bereits, so schrieb die FAZ, "davor gewarnt, daß der Protest der Straße alle - Regierung wie Opposition - hinwegfegen könnte".

Angesichts des spektakulären Machtkampfes zwischen Präsident und Duma geriet der Staatsbesuch von US-Präsident William Clinton in Rußland ins Hintertreffen. Jelzin beteuerte dem hohen Gast, dem sogenannten Reformkurs treu zu bleiben, und Clinton pries die russischen "Reformbemühungen" - aber vermutlich glaubten beide selbst nicht an ihre Worte. Zusagen für weitere Finanzspritzen an den russischen Staat machte Clinton nicht.

Interessant war die Konstellation der weiteren Gesprächspartner Clintons. Neben KP-Chef Sjuganow, Tschernomyrdin und Grigorij Jawlinskij von der demokratischen Jabloko-Fraktion traf er sich mit dem Krasnojarsker Gouverneur, General Alexander Lebed. Der sagte nach seinem Treffen mit Clinton, er habe den US-Präsidenten gewarnt: Die Lage in Rußland sei heute "gefährlicher als 1917".