Tödliche Bevormundung

Das Frankfurter Oberlandesgericht erlaubt die Tötung von Komapatienten, wenn das deren "mutmaßlichem Willen" entspricht

"Wenn keine Chance auf Heilung mehr besteht und ein Todkranker, der monatelang leidet, um Sterbehilfe durch die Ärzte bittet, sollte sie ihm gewährt werden." Mit diesem Satz begrüßte der CDU-Gesundheitsexperte Wolfgang Lohmann das Euthanasie-Urteil des Frankfurter Oberlandesgerichts.

Wer im konkreten Fall da um Sterbehilfe gebeten hatte, war im Jubel um die bahnbrechende Entscheidung von Anfang letzter Woche längst untergegangen. Zwar äußerte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, "große Bedenken", die Evangelische Kirche jedoch beeilte sich, den Beschluß der Richter als einen "vertretbaren Versuch zum Ausgleich zwischen Lebensschutz und Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten" abzusegnen. Die Deutsche Hospiz Stiftung, die Gesellschaft für humanes Sterben, der Marburger Bund - sie alle feierten die neue Qualität der Selbstbestimmung. Aber es wurde nicht immer ganz deutlich, ob diese in der Berufung des Gerichts auf den "mutmaßlichen" Patientenwillen oder eher darin gesehen wurde, nach langen Jahren des lähmenden Gedenkens an die Nazi-Euthanasie das Geschichtsbuch mit vereinten Kräften endlich zugeklappt zu haben, um Anschluß finden zu können an die liberale Tötungspraxis der Niederlande oder Australiens.

Ein entspanntes Aufatmen ging vor allem durch die Reihen der Ärzte-Funktionäre. Der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, lobte die Möglichkeit einer vorsätzlichen Tötung als einen "Schritt in die richtige Richtung" - und wer wollte ihm das verdenken? Immerhin bekommt der Teil seiner Klientel, der bisher den Erlöser auf eigene Faust spielte, juristische Rückendeckung. Auch Vilmars Stellvertreter Jörg Hoppe, bisher eher als Euthanasie-Kritiker im Vorstand bekannt, kam in Stimmung und unterstützte die Frankfurter Richter mit der Forderung, "Menschen, die sterben werden, auch in Ruhe sterben zu lassen". Das hatte nun auch wieder nichts mit der Sachlage und dem Beschluß des OLG zu tun.

Das hatte entschieden, Koma-Patienten dürften dann unter ärztlicher Regie getötet werden, wenn dies ihrem Willen entspreche. Sei dieser nicht in einem Patiententestament festgehalten, genüge ausnahmsweise auch die Feststellung des "mutmaßlichen Willen". Ob die Betroffenen Schmerz empfinden oder auf andere Weise unter ihrem Zustand leiden, spielt dabei keine Rolle. Ein zuvor als Betreuer bestellter Angehöriger muß lediglich dem Vormundschaftgericht den Sterbewunsch des Patienten glaubhaft machen können. Der Richter kann dann dem Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bei Menschen, bei denen ein "bewußtes und selbstbewußtes Leben nicht mehr zu erwarten" sei, zustimmen. In der Praxis heißt das: Einen bewußtlosen Patienten, der künstlich ernährt wird, aber lebensfähig ist, darf das Klinikpersonal mit der Entfernung der Magensonde buchstäblich verhungern lassen, sobald die Amtsrichter sich mit der Verwandtschaft verständigt haben.

Anlaß des aufsehenerregenden richterlichen Alleingangs in die Todeszone ist der Fall einer 85jährigen Patientin, die seit Ende 1997 im Frankfurter Nordwest-Krankenhaus liegt und künstlich ernährt wird. Ein Hirninfarkt hatte bei ihr zum Koma mit vollständigem Verlust der Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit geführt. Einem Gutachten zufolge hat sie eine derart schwere Hirnschädigung, daß eine "relevante Besserung", die von Medizinern mit der Wiedererlangung des Bewußtseins gleichgesetzt wird, nicht mehr zu erwarten sei. Die Tochter der Patientin hatte im März dieses Jahres, wenige Tage nachdem sie zur Betreuerin bestellt wurde, beim Vormundschaftsgericht den Abbruch der künstlichen Ernährung beantragt. Vor Jahren, argumentierte sie dort, habe die Mutter sich anläßlich des Todes eines Angehörigen gegen ein langes Siechtum und künstliche Lebensverlängerung ausgesprochen. Das Amtsgericht wies den Antrag zurück. Schließlich existiert im Betreuungsrecht keine Vorschrift, auf die sich selbsternannte Sterbehelfer berufen könnten, um ihren Erlösungsauftrag an Mündeln zu exekutieren.

Paragraph 1904 BGB hält dazu ausdrücklich fest, daß es eine ärztliche Maßnahme zur Gesunderhaltung des Patienten sein muß, die das Vormundschaftsgericht nach der Einwilligung des Betreuers genehmigen muß, wenn diese sehr riskant ist. Das Oberlandesgericht drehte den Spieß nun einfach um und las in diese Vorschrift flugs eine Regelung für die Sterbehilfe hinein. Genauso wie im Fall einer Risiko-Operation könne auch beim Behandlungsabbruch verfahren werden. Der Antrag der Tochter, bestimmten die Richter, eigne sich für eine analoge Anwendung des Paragraphen, und sie verwandelten damit die Euthanasie in eine reine Heilbehandlung. Die Herbeiführung des Todes, vorher als unbeabsichtigte Nebenfolge bei einer lebensrettenden Operation akzeptiert, darf fortan als Meisterstück ärztlicher Behandlungskunst gelten. Nach dieser glatten Umkehrung der Rechtslage, die den Berufsstand zum Herren über Leben und Tod adelt, spürte wohl selbst das Gericht die braune Vergangenheit im Nacken. Die Auseinandersetzung mit dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten wird freilich in dem Halbsatz abgehandelt, daß diese neue Euthanasie im Gegensatz zur NS-Praxis vom "wenigstens mutmaßlichen Willen des Betroffenen" getragen sei und außerdem durch Gerichte kontrolliert werde, was einem möglichen Mißbrauch vorbeugen würde.

Dabei illustriert gerade der aktuelle Fall sehr gut, daß der Mißbrauch im Gebrauch liegt. Schließlich haben die Frankfurter Richter vorgeführt, wie sich am geltenden Strafrecht vorbei eine reibungslose Euthanasiepraxis etablieren kann, wenn nur Richter, Ärzte und Angehörige sich darin einig sind, daß eine "Hilfe zum Sterben" bereits dann angezeigt ist, wenn der gesunde Menschenverstand im Leben des Kranken den Sinn vermißt.

Mit der Rechtfertigung einer Sterbehilfe für Menschen, die keineswegs im Sterben liegen, nehmen die Richter ausdrücklich den zentralen Gedankengang der umstrittenen "Richtlinien für die ärztliche Sterbebegleitung" der Bundesärztekammer auf. In diesen Richtlinien, die seit April 1997 vorliegen, wird der Handlungsrahmen der Ärzte drastisch erweitert. Unter Punkt zwei dieser Empfehlungen, denen allein die Autorität der mächtigen Standesorganisation zu informeller Rechtskraft verhilft, wird der Behandlungsabbruch bei Patienten vor dem Eintritt in die Sterbephase vorgeschlagen.

Menschen im Wachkoma, aber auch schwerbehinderte Neugeborene, die nur mit "außergewöhnlichen Hilfsmitteln am Leben gehalten werden können", sollen getötet werden dürfen, wenn dies ihrem "mutmaßlichen Willen" entspricht. Zur Ermittlung dieses mutmaßlichen Willens sind nach Auffassung der Bundesärztekammer insbesondere die "Risiken bleibender Behinderungen" zu berücksichtigen.

Das von der Bioethik vielbeschworene Recht auf Selbstbestimmung, das sich für den bewußtlosen Patienten als Recht auf seine Lebensbewertung durch den Vormund ausbuchstabiert, wird damit gegen die Achtung des Lebens aufgerechnet. Daß für diese folgenschwere Operation das Operationsbesteck lediglich aus dem wackeligen Konstrukt eines mutmaßlichen Willens besteht, macht die Sache etwas heikel, und das, finden die Frankfurter Richter, muß nicht sein. Am Ende ihrer Ausführungen zur Beschlußfassung haben sie daher nicht vergessen darauf hinzuweisen, daß den Patiententestamenten künftig große Bedeutung beikommen werde.

Die Prognose ist nicht sehr gewagt. Schließlich hat das Oberlandesgericht mit seiner Entscheidung eigenhändig die Weichen gestellt. Es empfiehlt sich daher, sich besser noch heute mit dem notariell beglaubigten Lebenswillen gegen tödliche Mitleidsattacken seiner Angehörigen zu versichern. Welchen Schleichweg durch den Paragraphendschungel die Richter dann finden werden, um den ausdrücklichen Wunsch nach lebensverlängernden Maßnahmen im Ernstfall in einen mutmaßlichen Sterbewunsch umzudeuten, darf mit Spannung erwartet werden.