Christian Pfeiffer

»Keine Rede davon, daß alles brutaler wird«

Nach dem Mord von zwei Jugendlichen an einem Lebensmittelhändler in Hamburg waren sich Politiker fast aller Parteien einig: Mehr geschlossene Heime müssen her. Inzwischen haben Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern die Einrichtung weiterer geschlossener Heimplätze angekündigt. Christian Pfeiffer ist Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

Der Spiegel schreibt, Fachleute würden "einen großen Teil ihrer wissenschaflichen Kompetenz" darauf verwenden, das Problem Kinderkriminalität "wegzudiskutieren". Fühlen Sie sich angesprochen?

Wir Wissenschaftler sind keineswegs dabei, die Dinge zu verharmlosen. Aber wir haben bessere Daten, als der Spiegel sie hat. Er ist abhängig von Informationen, die ihm andere zuliefern, und das recherchiert er mal mehr, mal weniger gründlich. Ein typisches Beispiel dafür war sein Horrorartikel zu den "kleinen Monstern", in dem er schreibt, die Kinderkriminalität sei in Ostdeutschland um 600 Prozent angestiegen. Da wurden Daten von 1991 mit denen von 1997 verglichen. Aber 1991 hatte die Polizei wegen fehlender Computer und mangelndem Fachpersonal nur einen Bruchteil der wirklich bearbeiteten Kriminalität ans Bundeskriminalamt gemeldet. Erst 1997 waren dann auch die Ostbeamten - was das Registrieren angeht - auf Westniveau angekommen. Man hatte unvollständige Zahlen aus dem Jahr 1991 mit vollständigen Zahlen des Jahres 1997 verglichen. Logisch, daß man da zu Horrorergebnissen kam.

Hat denn die Hysterie um die Brutalo-Kids reale Grundlagen? Oder kann man von einem Anstieg der Brutalität von Kindern und Jugendlichen gar nicht sprechen?

Dazu möchte ich ein Beispiel aus Hannover erzählen. Uns wurde von den Fachleuten der Stadt berichtet, früher hätte es noch den Anstand gegeben, wenn einer am Boden liege, nicht mehr auf ihn einzutreten. Heutzutage würde dagegen unerbittlich nachgetreten und den Opfern würden so schwere Verletzungen zugefügt. Kurz: Die Brutalität habe ein ganz andere Dimension angenommen.

Das haben wir überprüft. Wir haben für 1990 alle Fälle von Körperverletzungsdelikten von unter 21jährigen erfaßt und haben sie mit den Fällen von 1996 verglichen. Das Ergebnis ist faszinierend: Die Zahl der krankenhausreif geschlagenen Leute ist rückläufig, die Zahl der Körperverletzungen, bei denen kein Arzt hinzugezogen werden mußte, also Schürfwunden oder ähnliches, hat dagegen deutlich zugenommen. Die Erklärung für diese im Grunde erfreuliche Veränderung in der Struktur der Jugendgewalt ist, daß die Täter immer jünger werden. Und die Opfer werden immer jünger, damit werden die Folgen weniger schwerwiegend. Also keine Rede davon, daß alles brutaler wird. Das sind natürlich nur die Daten aus einer Stadt. Aber sie zeigen: Vorsicht vor den Einschätzungen, die von seiten der Medien und von selbsternannten Fachleuten unter den Politikern getroffen werden. Die Wirklichkeit sieht nicht ganz so dramatisch aus, wie es oft den Anschein hat.

Die Diskussion um geschlossene Heime oder die Herabsetzung des Strafmüdigkeitsalters beruht also auf rein politischen Motiven?

Die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters verlangen nur selbsternannte Oberexperten, Hinterbänkler oder die kleinste aller Polizeigewerkschaften, die im Beamtenbund, die sich mit dieser Forderung profilieren wollte. Hermann Lutz, der Vertreter der größten Polizeigewerkschaft, hat immer wieder dezidiert gesagt, daß das nichts bringt. Das ist ebenso eine Scheinlösung wie die geschlossene Heimunterbringung ...

... Aber die fordern ja die relvanten Politiker durchaus, zuletzt Gerhard Schröder ...

Ja, aber das sind Äußerungen von Leuten, die von der Sache keine Ahnung haben. Die Fachleute wissen sehr wohl, daß die geschlossene Heimunterbringung mit 400 Mark pro Tag sehr teuer ist und daß sie sehr viele Rückfälle produziert. Wir wissen das aus früheren Untersuchungen, als die geschlossene Heimunterbringung in Deutschland noch viel verbreiteter war. Damals war es doch sehr oft so, daß man aus dem geschlossenen Heim mit kurzer Unterbrechung ins Gefängnis ging. Die geschlossene Heimunterbringung akzeptiere ich nur als kurzfristige Krisenintervention, wenn der Jugendliche sich ständig entzieht, nicht aber als pädagogische Dauerlösung.

Was sind denn die Ursachen des Anstiegs der Jugendgewalt, sofern es ihn überhaupt gibt?

Es gibt ihn. Die Zahl der Tatverdächtigen hat sich in dieser Altersgruppe seit 1984 verdreifacht. Die Zahl der Jugendlichen, die wegen Gewalttaten verurteilt wurden, hat sich von 1984 bis 1996 um 121 Prozent erhöht.

Wie paßt das mit Ihren Ergebnissen aus Hannover zusammen?

Da hatten wir zwar einen Rückgang bei den krankenhausreif geschlagenen Opfern und bei den Raubüberfällen über 1 000 Mark Schaden, aber eine starke Zunahme der leichten Gewaltdelikte und der Raubkriminalität unter 25 Mark. Ferner gilt: Der insgesamt festgestellte Anstieg geht vor allem auf das Konto von Zuwanderern. Die Einheimischen sind sozial relativ gut integriert, besuchen überwiegend Schulen, die ihnen gute Berufsperspektiven eröffnen und wachsen auch weit seltener als die eingewanderten Jugendlichen in Familien auf, die von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt sind.

Keine Rechtfertigung, von Ausländerkriminalität zu sprechen?

Natürlich nicht, es ist ein Problem der sozialen Lage. Wir haben eine Winner-Loser-Kultur, in der die einheimischen Deutschen überwiegend auf der Gewinnerseite stehen. Sie haben mehr Anlaß, an den Satz zu glauben: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Eine wichtige Rolle spielt ferner, daß wir bei den Einwanderern eine fast doppelt so hohe Quote innerfamiliärer Gewalt wie bei den einheimischen Deutschen haben. Also Eltern, die ihre Kinder prügeln, oder Väter, die die Mütter schlagen. Problematische Rollenvorbilder und sehr viel Erniedrigung, Frust und Demütigung für die Kinder.

Die üblichen Erklärungsmuster für die zunehmende Jugendgewalt sind die antiautoritäre Erziehung

... völliger Schwachsinn ...

... und die Gewaltdarstellungen im Fernsehen.

Das ist ein ernster Punkt. Aber die These, die antiautoritäre Erziehung sei schuld, ist empirisch nicht haltbar. Beispiel: Wir haben mit hundert zufällig ausgewählten gewaltorientierten jungen Menschen jeweils drei bis fünf Stunden lange biographische Interviews geführt. Das Ergebnis ist: Kinder von Eltern, die wir als antiautoritär bezeichnen könnten oder nur als sogenannte 68er, fanden wir nicht darunter.

Wohl aber ganz überwiegend Gewalttäter, die als Kinder stark vernachlässigt und massiv geschlagen wurden.

Und die Kritik an den Medien?

Die ist berechtigt. Sowohl in der Biographieforschung als auch in internationalen Untersuchungen zeigt sich, daß zwar der von den Eltern geliebte, mit guten Perspektiven aufwachsende Jugendliche in keiner Weise durch Mediengewalt tangiert wird. Der kann sich noch soviel Gewalt auf Video reinziehen, das verändert nicht sein Verhalten.

Aber gefährdet sind Kinder, die sehr verunsichert sind, die ein Problemelternhaus haben, die z.B. geschlagen werden, vernachlässigt werden, die keine stabile Beziehungsperson haben und die von daher nach Orientierung suchen. Die sind gefährdet, sich dann die Vorkriegsmodelle von Männlichkeit als Orientierung zu nehmen, die in vielen Filmen angeboten werden. Suggestionsmächtige Gewaltdarstellung in den Medien kann dann der Auslöser sein, sie nachzuahmen.

Das gilt auch für die Berichterstattung. Beispielsweise ist rechtsradikale Gewalt immer dann auf dramatische Höhepunkte angestiegen, nachdem wir die intensive Berichterstattung über Rostock, Hoyerswerda, Solingen oder Mölln hatten. Immer in der Woche nach solchen Ereignissen war die rechtsradikale Gewalt am höchsten.

Kann man die rechtsradikale Gewalt wirklich in einen Topf werfen mit allgemeiner Jugendgewalt?

Es war fast immer Jugendgewalt.

Aber rechte Jugendliche kommen doch auch aus sogenannten intakten Familien, haben ihre politische Meinung oft von den Eltern übernommen und sie sind mit ihren Anschauungen durchaus in die Gesellschaft integriert.

Ich habe gerade sämtliche Studien darüber durchgearbeitet. Und da zeigt sich, daß unter den polizeilich registrierten rechtsradikalen Gewalttätern eindeutig die autoritär erzogenen Jugendlichen mit einem niedrigen Bildungsniveau dominieren. Es sind extreme Ausnahmen, daß wir Gymnasiasten unter den Tätern haben. Freilich findet man bei den rechtsradikal Organisierten auch einige aus der unteren Mittelschicht, aber überhaupt keine Dominanz der Mittelschicht.

Zumindest kann man nicht sagen, den rechten Gewalttätern würde es an Orientierung mangeln.

Doch - zunächst schon. Deswegen gehen sie ja in diese Gruppen, weil sie stark verunsichert sind, weil sie Orientierung suchen. Dort finden sie dann ein einfach gestricktes Weltbild, eindeutige Handlungsmuster und Gruppenzusammenhalt.

Für die Jugendgewalt im allgemeinen bleibt meine Grundthese: Das Ansteigen der Jugendgewalt hat mit der Stärkung der Winner-Loser-Kultur zu tun, und es hat zu tun mit der mißlungenen Einwanderung, mitbedingt durch eine wenig konstruktive Einwanderungspolitik. Unser Land hat pro 100 000 Bürger mehr Zugewanderte als die USA. Aber wir haben keine diesem Faktum entsprechende Integrationspolitik betrieben. Das drückt sich dann auch in der Jugendgewalt aus.

Aber ich sage nicht: Die Ausländer sind schuld, sondern unter den Rahmenbedingungen sozialer Desintegration entwickelt sich Einwanderung zu einem Belastungsfaktor im Bereich der Jugendgewalt.

Ich nehme an, daß die starke Zunahme der leichten Fälle in der Jugendgewalt auch damit zusammenhängt, daß Gewalt von Ausländerkindern schneller angezeigt wird. Unter den Angeklagten wegen Jugendgewalt waren in Hannover 1990 39 Prozent, 1996 waren es bereits 62 Prozent Einwanderer, einschließlich der Aussiedler mit deutschem Paß und der Eingebürgerten. Diese Dominanz kann auch eine Folge davon sein, daß früher Max-und-Moritz-Konflikte weniger angezeigt, sondern mehr informell beigelegt wurden. Aber heute führen die Max-und-Achmed-Konflikte möglicherweise häufiger zu einer förmlichen Bearbeitung des Falles, weil sich die Eltern untereinander nicht mehr gut verständigen können. Das ist eine Überlegung, der wir noch nachgehen.

Noch einmal zurück zur Politik. Welche Folgen wird der Ruf nach härterem Durchgreifen haben?

Das ist Wahlkampfrhetorik. Das Problematische ist, daß in der Bevölkerung durch diese Debatte ein größeres Strafbedürfnis entsteht, so daß in der öffentlichen Meinung der Druck wächst, es mit mehr Härte, mit mehr Wegsperren zu versuchen.

Es gibt also eher eine Brutalisierung der Rhetorik als eine der Jugendgewalt?

So ist es. Deshalb denke ich, wir müssen abwarten, was im Oktober unter der neuen Regierung passiert - auch wenn es die alte ist, das macht keinen Unterschied. Ich hoffe doch, daß wir nach der Wahl wieder die Gelegenheit haben, empirisch gesicherte Erkenntnisse und eine differenzierte Argumentation politisch zum Tragen zu bringen. Dabei wird sich herausstellen, daß wir eine verbesserte Integration der Einwanderer in das Schulsystem brauchen, damit sie mehr Chancen haben. Wir brauchen Früherkennung und schnelle Hilfe bei innerfamiliärer Gewalt.

Und wir brauchen eine Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts. Mehrfach mißhandelte, schlimm gedemütigte, geschlagene Kinder haben eine dreifache Gewaltrate. Deshalb ist die Frage Nummer eins: Wie können wir wegkommen von der innerfamiliären Gewalt? Und ein Staat, der den Eltern signalisiert: Übers Knie legen, laufend Ohrfeigen, Kinder mit Gegenständen schlagen - das alles ist vom elterlichen Züchtigungsrecht gedeckt, der signalisiert auch, daß das richtig sei und macht sich damit mitschuldig.