Message In the Bottle

Wie die Kritische Theorie einmal fast die Massen ergriffen hätte: Wolfgang Kraushaars "Frankfurter Schule und Studentenbewegung - Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail"

Was hat Kritische Theorie mit den Marktgesetzen zu tun? Viel, wenn Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung zum dreißigjährigen Jubiläum von 1968 beim Verlag 2001 drei gewichtige Bände zum Thema "Kritische Theorie und Studentenbewegung" herausbringt. Sie sollten bereits 1988 erscheinen, damals allerdings noch in der Edition Suhrkamp. Suhrkamp verlor das Interesse, da das Projekt nicht marktgerecht zum Frühjahr 1988 fertiggestellt werden konnte.

Das Ergebnis: Die bekannt lieb- und geschmacklose Aufmachung von 2001 verbindet sich nun mit einem Gemischtwarenladen, in dem brillante Essays aus dem Jahre 1970 ("Philosophisch-politisches Profil Hans-Jürgen Krahl" von Detlev Claussen) neben anderen bereits veröffentlichten Analysen ("Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung" von Wolfgang Kraushaar) und wenigen belanglosen Erstveröffentlichungen stehen.

Zusätzlich zu den ursprünglich geplanten Aufsätzen wurde eine Chronologie der Protestbewegung und eine Dokumentation wichtiger Ereignisse rund um die Frankfurter Schule und die Protestbewegung von Ende der vierziger bis in die neunziger Jahre hinein aufgenommen. Diese besticht durch einen Frankfurter Blick auf das Weltgeschehen. Sämtliche Protestbewegungen vom Protest gegen die Wiederbewaffnung über die Apo bis zur RAF und der Alternativbewegung scheinen ihre Wurzel zwischen Bockenheim und dem Westend zu haben.

Mit Kritischer Theorie hat das wenig zu schaffen, Adorno selbst meinte wohl zu Titeln wie "Kritische Theorie und Studentenbewegung", daß eine derartige faktizistische Bandkonzeption, wo noch die kleinste Demo und akademische Preisverleihung Erwähnung findet, sowie die Titulierung mit Kollektivbegriffen selber in den Bereich dessen gehört, das den Faschismus mit hervorgebracht hat. Die reine praktische Vernunft galt ihm als objektlos, gerade deshalb mache sie alles zum Material und zur Ware.

Die Indifferenz der praktischen Vernunft dem Objekt gegenüber machte Adorno allerdings auch alle politische Praxis zur Scheinpraxis. Die Erfahrung des Objekts galt ihm als versperrt, Praxis deshalb als beschädigt wie das Leben, das falsch sein mußte, solange es den Gesetzen und Notwendigkeiten der Selbsterhaltung unterlag. In der ausführlichen Dokumentation der Auseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und den Vordenkern der Studentenbewegung in der antiautoritären Phase der Apo zwischen 1967 und 1969 liegt die einzige Stärke der drei Bände. Die generellen Linien dieser praktisch-theoretischen Diskussionen und Positionierungen sind zwar ebenfalls längst bekannt und bearbeitet, allerdings ist es nun möglich, diese en détail in ihrer Auseinanderentwicklung zu analysieren. Schnell wird deutlich, daß es in den Jahren 1966 bis 1970 innerhalb des engeren Kreises der Kritische Theoretiker um Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas keine gemeinsame Positionierung der Apo gegenüber gab, weder im positiven noch im negativen Sinn.

Im letzten Brief Adornos an Marcuse, geschrieben wenige Tage vor seinem Tod, im Sommer 1969 in der Schweiz, heißt es: "Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt, gar nicht erst - obwohl dies auch - als Reperkussion." Marcuse hatte zuvor mehrmals Adorno zu einer deutlicheren und positiveren Stellungnahme gegenüber der Studentenbewegung aufgefordert.

Am Tage der Beerdigung Adornos erscheint in der Frankfurter Rundschau der Artikel seines Schülers Hans-Jürgen Krahl, zusammen mit Rudi Dutschke der führende Theoretiker des SDS, unter dem Titel "Der politische Widerspruch in der Kritischen Theorie Adornos". Krahl betont völlig zu Recht, daß die Theorie Adornos bis in ihre innersten Widersprüche hinein von der Erfahrung des Faschismus geprägt sei. Auch seine Kritik an der Studentenbewegung sei dadurch bestimmt. "Er teilte die Ambivalenz des politischen Bewußtseins vieler kritischer Intellektueller in Deutschland, die projizieren, die sozialistische Aktion von links setze das Potential des faschistischen Terrors von rechts, das sie bekämpft, überhaupt erst frei. Damit aber ist jede Praxis a priori als blind aktionistisch denunziert und die Möglichkeit politischer Kritik schlechthin boykottiert, nämlich die Unterscheidung zwischen einer im Prinzip richtigen vorrevolutionären Praxis und deren kinderkranken Erscheinungsformen in entstehenden revolutionären Bewegungen."

Marx' Vorwurf an die Junghegelianer, bei der Waffe der Kritik die Kritik der Waffen vergessen zu haben, wird von Krahl an Adornos Adresse geschickt. Noch schwerer wiegt Krahls Vorwurf, aufgrund der bloß abstrakten Negation kapitalistischer Verhältnisse seien wesentliche Elemente seiner materialistischen Geschichtsauffassung verkümmert: die Adornoschen Grundkategorien bedürften der historisch-materialen Vermittlung. Adorno sei als Ideologiekritiker des bürgerlichen Individuums gleichsam in dessen Ruine gebannt geblieben und habe es nicht geschafft, von der theoretischen Kritik zur politischen Praxis voranzuschreiten.

Die weiteren im Band publizierten Kritiken Krahls an der Kritischen Theorie sind eher an die Adresse von Habermas und gegen seinen Vorwurf des "Linksfaschismus" gerichtet, den er 1967 Rudi Dutschke entgegengeschleudert hatte. Der große Kommunikator Habermas distanzierte sich allerdings schnell davon, um Dutschke schließlich 1980 nach dessen Tod in einem Nachruf zu einem Mitstreiter in Sachen herrschaftsfreier Kommunikation zu machen: "Inspiriert hat ihn der Gedanke einer radikal-demokratischen, nicht-instrumentellen, einer auf kommunikativ verflüssigte Formen der Organisation angewiesenen Politik." Derlei Dynamik in philosophisch-politischen Profilen taugt allemal zur Erheiterung.

Substantiierter als in den altbekannten Kritiken an der theoretischen Gemengelage in der Ideologie des SDS analysiert der damalige Mitstreiter Dutschkes, Bernd Rabehl, in einem der wenigen Originalbeiträge, daß über Sartre und Marcuse sowie den Situationismus existentialistische Elemente in die Theorie der Studentenbewegung, insbesondere in das Denken Dutschkes und Krahls, gelangt war. Diese Elemente seien am Ende für die gegenaufklärerischen, dezisionistischen und autoritären Formen der Protestbewegung verantwortlich. Insbesondere gehe die "Liquidierung der antiautoritären Phase" durch die diversen ML-Gruppen nach 1968 auch darauf zurück, daß es nicht gelungen sei, in der antiautoritären Phase von dieser existentialistischen Haltung wegzukommen.

Adorno distanzierte sich vom "Aktionismus" der Protestbewegung, dem er "Pseudoaktivität" bescheinigte. Unter den Bedingungen der Gegenwart sei eine gesellschaftsverändernde Praxis vorstellbar nur als "gewaltlos und durchaus im Rahmen des Grundgesetzes". Er hielt den Weg zur Gesellschaftsveränderung für "versperrt" und schloß sich implizit Habermas' Kritik an, der behauptete, der Voluntarismus und Existentialismus der Möchtegern-Revolutionäre vom SDS schaffe objektiv eine günstige Bedingung für eine autoritär-faschistische Reaktion des Staates und sei von seiner Haltung her "objektiv reaktionär". Adorno äußerte in einem seiner schwachen Momente: "Wie konnte ich ahnen, daß Leute mein theoretisches Denkmodell mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?" Er hätte zwar seine Theorie trotzdem nicht anders formuliert, er habe aber auch "niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben". Er kritisiert den "Zwang sich auszuliefern, mitzumachen", der von der APO ausgehe, dieser Zwang trage selbst wahnhafte Züge und ignoriere die Totalität der Gesellschaft.

Auch in der Praxis stehen sich Adorno und Habermas nicht gerade so unvermittelt gegenüber, wie dies heute sein mag. Als praktische Gegenvorschläge rückte Habermas immer wieder die Perspektive einer "massenhaften Aufklärung" und eines "radikalen Reformismus" in den Vordergrund, Perspektiven, die Adorno durchaus nicht fremd waren.

Bekamen so Adorno und Habermas Angst vor der eigenen Courage, so radikalisierten sich die kritischen Köpfe der Apo im selben Maße. Prägnant formulierte dies wieder einmal Krahl, der selbst noch Marcuse vorwarf, seine "Ideologiekritik der Eindimensionalität" lasse "die empörten Intellektuellen in Ungewißheit darüber, ob die Integration der Arbeiterklasse unwiderrufliches Schicksal oder aufhebbarer Schein sei".

Der Zerfallsprozeß der antiautoritären Bewegung, die mit derlei auf das Praktische zielenden Fragen bereits eingeleitet wurde, ist in den drei Bänden überreich dokumentiert. Bald sollten "organisationspraktische Stabilisierungen" im Neoleninismus und Reformismus münden. Neben diesem prak- tischen Strang gab es auch noch den Versuch, die Kritische Theorie theoretisch zu überbieten.

In der politischen Werttheorie der siebziger Jahre, etwa in Wolfgang Pohrts "Theorie des Gebrauchswerts" und Stefan Breuers "Krise der Revolutionstheorie", erhält Adornos Begriff der "Nichtidentität" wider Adornos Warnung vor dessen Verdinglichung als "Gebrauchswert" Subjektstatus. Dieser sei vom Kapitalismus endgültig zerstört worden. Pohrt, Breuer und andere "Anschlüsse" an Krahls Theorie kommen so an den Endpunkt der Reflexion, da sie die dialektische Kategorie der Vermittlung, die bei Adorno noch zentral war, eliminieren.

Die Kritische Theorie wird zum Gegenstand melancholischer Spekulation, in Gestalt der Wertkritiker, die nach dem Tod des Gebrauchswerts nichts mehr zu kritisieren haben, führt dies meist zu apokalyptisch verzerrten Untergangsszenarien. Durch den behaupteten Automatismus des Kapitalverhältnisses entsteht eine schiefe Gesellschaftstheorie, die auch den Aktionismus der Protestbewegung prägte und nun negativ gewendet wird: Irgendwann kommt der entscheidende Augenblick, der Kairos, der es ermögliche, den Automatismus zu sprengen. Wird er nicht erfaßt, ist es eben zu spät - für immer.

Adornos Verhältnis zur Praxis war da, gerade wegen seiner rigiden, deutlich neokantianisch geprägten Haltung, die an der "Kritik der praktischen Vernunft" und ihren Unzulänglichkeiten geschult war, weitaus vernünftiger: Genauso, wie er gegen die Theorie der "spontanen Aktion" auf deren systemimmanente stabilisierende Folgen verwies, kritisierte er die Haltung postmoderner Apokalyptiker, die behaupten, alles sei immer schon in die Totalität integriert. Krahl bewies auf der Ebene der politischen Praxis immerhin, daß die Kritische Theorie zur permanenten Revision ihrer eigenen Grundlagen fähig ist. Adorno dagegen verhielt sich nur auf der theoretischen Ebene historisch-kritisch. In der Praxis steckte er noch mitten im Faschismus. Das hatte er mit Horkheimer gemein, der von der Studentenbewegung erwartete, sie beschleunige den Prozeß zu einem autoritären und "automatisierten" Staat.

Marcuse wies Adorno darauf hin, daß er bei der Beurteilung der Funktion der Protestbewegung den Unterschied zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie nicht vergessen solle. Marcuse ist auch beizupflichten, daß über alle Divergenzen in der Beurteilung der Apo hinweg die Solidarität des gemeinsamen kritischen Denkens, der Kritischen Theorie, unangetastet geblieben sei.

Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail.
1946 bis 1995. Drei Bände. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt/M., 1 816 S., DM 75