Euro-Rolle rückwärts

Kohl will sich von der SPD nicht an Europaskepsis überbieten lassen und fordert in Cardiff weniger Europa

Einen "Gipfel des Volkes" wollte Tony Blair in Cardiff abhalten. "Ein Gipfel des Populismus" sei es geworden, so die Einschätzung des Vorsitzenden der liberalen Fraktion im Europaparlament, des Niederländers Gijs de Vries. Wichtige Beschlüsse wurden auf dem EU-Gipfel vergangene Woche nicht gefaßt, und so war um so mehr Raum für Symbole: Kohl reiste und hatte - ein Vorstoß für die Anerkennung regionaler Sonderheiten oder nur seines größeren Umfangs wegen? - einen weißen Bus den Einheitslimousinen der anderen 14 Teilnehmern vorgezogen. Auch sonst tänzelte der deutsche Regierungschef aus der Reihe.

Weniger Europa: Das schien auf einmal das Hauptthema des "großen Europäers" zu sein. Brüssel mische sich zu sehr ein, regle alles bürokratisch, ob es sich um die Länge von Stricken zum Kälberanbinden oder um das Verbot der Tabakwerbung gehe. Nicht immer geht dabei die Argumentation der angeblichen Bürgerfeindlichkeit der EU-Regelungen auf. So bei der Verlängerung der Garantiefristen für Waschmaschinen oder Computer von sechs Monaten auf zwei Jahre, die aus Deutschland kritisiert worden war.

Vorgebliches Wundermittel gegen die aufgeblähte EU-Bürokratie: Das Subsidiaritätsprinzip, seit langem Steckenpferd der Europagegner in der bayerischen Staatsregierung - und ein alter Hut. Das Prinzip, nach dem Entscheidungen möglichst auf der untersten Ebene gefällt werden sollen, wurde auf deutschen Druck in der Amsterdamer Revision des EU-Vertrags sogar in einem eigenen Sonderprotokoll festgeschrieben. Trotzdem war Kohl in diesem Punkt die eigene Profilierung offenbar so wichtig, daß er in Kauf nahm, den eigenen Außenminister dumm dastehen zu lassen. Ohne Klaus Kinkel zu informieren, hatte er zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac eine Brief an den Gastgeber Tony Blair geschrieben, und ihn gebeten, das Subsidiaritätsprinzip auf die Tagesordnung zu setzen. Kinkel erfuhr von dem Brief erst von den anderen europäischen Außenministern.

Das andere Stichwort, bei dem Kohl in Cardiff polterte - "Kohl agiert mehr und mehr brutal", wird ein nordeuropäischer Regierungschef zitiert - hieß "Lastenverteilung". Deutschland gehört zu den Nettozahlern der EU. Die Bundesrepublik zahlt etwa 21 Milliarden Mark an die EU, nach Abzug der Rückflüsse finanziere Deutschland damit nach Waigels Rechnung 60 Prozent des europäischen Haushalts. Kohls Forderung: Der deutsche Beitrag müsse sinken. Er sei ja nicht so "europafanatisch", daß er nicht auf die deutschen Interessen achten würde. Die Irish Times kommentierte: In einem "euroskeptischen Anfall", habe der deutsche Kanzler "Maggie Thatchers Handtasche ergriffen" und sei bereit, sich ebenso gegen Europa einzusetzen wie die Eiserne Lady, die einst eine Senkung des britischen Beitrags erkämpft hat.

Lange feilschte Kohl um die Erwähnung seiner Forderung im Abschlußdokument und verkaufte seinen Auftritt zwei Tage später im Bundestag als Erfolg: "Wir wollen eine faire, gerechte Lastenverteilung", so Kohl in einer Regierungserklärung. Dieses Interesse sei in Cardiff erstmals von den europäischen Partnern anerkannt worden. Die Abschlußerklärung gibt für Kohl Erfolgsmeldung allerdings wenig her. "Der Europäische Rat (nimmt) zur Kenntnis, daß nach Auffassung einiger Mitgliedsstaaten die Lasten gerechter verteilt werden müssen", heißt es da und weiter, "was von einigen anderen Mitgliedsstaaten hingegen abgelehnt wird."

Kohl mußte nachziehen. Während er den unpopulären Euro durchsetzte, versprach sein Konkurrent Schröder, in der EU verstärkt deutsche Interessen zu vertreten. Und eine Woche vor dem Cardiffer Gipfel forderten alle 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer in großer Eintracht: "Brüssel muß Deutschland finanziell entlasten". Und so brachte Kohl die Lastenverteilung in Cardiff auf die Tagesordnung, obwohl für diese Frage ein EU-Gipfel im März 1999 geplant ist. Ob dort eine Entscheidung im Sinne Kohls bzw. Schröders gefällt wird, ist zweifelhaft, denn für eine neue Finanzordnung ist Einstimmigkeit erforderlich, sonst gelten die alten Regeln weiter. Die Länder, angeführt von Spanien, deren Rückfluß aus den EU-Kassen höher ist als ihr Beitrag, weigern sich, den deutschen Forderungen zuzustimmen.

Spanien und Portugal machten in Cardiff sogar einen Gegenvorschlag, nach dem die Mitgliedsstaaten einen Beitrag zahlen sollten, der proportional zu ihrem Reichtum ist - also eine Art progressive Steuer, so daß die reichen Mitgliedsstaaten nicht weniger, sondern mehr zahlen müßten. Und Spaniens Präsident José Mar'a Aznar hielt Kohl entgegen, es müsse um eine "bessere politische und wirtschaftliche Integration" statt um eine Rückbesinnung auf die Nation gehen. Das sozialdemokratische El Pais schloß sich in diesem Punkt dem konservativen Regierungschef an und nannte den deutsch-französischen Vorstoß "einen frontalen Angriff auf die europäische Union und einen Appell an den wiedererstärkten Nationalismus".

Kohls neuer Ton in der Europapolitik scheint mehr als Wahlkampfgetöse zu sein. So zitierte die Zeit einen hohen Regierungsbeamten mit den Worten, es drohe "eine regelrechte Verstoiberung unserer Europa-Politik". Und Wolfgang Schäuble fordert in seinem neuen Buch eine Rückbesinnung auf die Nation. Sein Argument: Die Währungsunion habe die europäische Einigung unumkehrbar gemacht, jetzt könne man getrost den gesamten europäischen Besitzstand überprüfen, mit einem Ziel: "Rückübertragung vieler Kompetenzen, die heute in Brüssel liegen, an die Nationalstaaten."

Egal, wer in der nächsten Legislaturperiode Kanzler wird - Schröder, Kohl oder Schäuble - die übrigen EU-Staaten werden sich auf eine aggressivere Gangart der Deutschen einstellen müssen.