Carte blanche für den BGS

Die Regierungskoalition will den BGS weiter zur Bundespolizei ausbauen und ihm in den nächsten Tagen verdachtsunabhängige Kontrollen erlauben

Plötzlich soll alles doch ganz schnell gehen: Die Regierungskoalition will "verdachts- und anlaßunabhängige Kontrollen für den Bundesgrenzschutz", für die sich besonders Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) stark gemacht hat, schon am heutigen Mittwoch vom Bundestag verabschieden lassen. Seit 1992 läuft das mithin größte Arbeitsbeschaffungsprogramm der Republik schon auf Hochtouren: die Reorganisation der 30 000 Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) zur länderübergeifend tätigen Bundespolizei. Elegant wurden nach dem DDR-Anschluß das Schreckgespenst "Organisierte (Ausländer-)Kriminalität" und das "subjektive Unsicherheitsgefühl" in Szene gesetzt. Nach der 30 Kilometer ins Landesinnere greifenden "Schleierfahndung" und der auf kommunaler Ebene angesiedelten "Aktion Sicherheitsnetz" stehen jetzt "verdachtsunabhängige Kontrollen" auf dem Menüplan des Bundesinnenministeriums (BMI). Mit einer Ergänzung des Bundesgrenzschutzgesetzes werden dann die Voraussetzungen dafür geschaffen, Bahnhöfe, Bahnanlagen, Züge und Flughäfen mit willkürlichen Kontrollen zu überziehen.

Während Kanther beteuert, der BGS solle "keine neue Bundespolizei werden", spricht Conradt Schmedt, zuständiger Referent für den BGS im BMI, bereits von der "Wettbewerbsfähigkeit des BGS gegenüber den Ländern" und im Hinblick auf weiteren Kompetenzzuwachs vom "Prinzip der ungeteilten polizeilichen Verantwortung in einem räumlichen Zuständigkeitsbereich". Genau dieser Bereich ist seit 1992 sukzessive ausgebaut worden, so daß der BGS inzwischen auf Bahnhöfen, Bahnanlagen, in Zügen, auf Flughäfen und deren Umfeld sowie entlang von Straßen - demnächst verdachts- und anlaßunabhängig - kontrollieren darf.

Bis 1992 hatte der Bundesgrenzschutz durch geschlossene und kasernierte Verbände im Kern zwei Aufgaben erfüllt: Die Grenzsicherung und - auf Anforderung der Länderpolizeien - die Unterstützung bei "besonderen Lagen" wie Großdemonstrationen und in der "Terrorismus"-Bekämpfung. Gesetzlich gedeckt ist auch der Einsatz "im Falle des inneren Notstands" und in Katastrophenfällen. Seit dem "Aufgabenübertragungsgesetz" vom April 1992 ist der BGS zudem für die Kontrolle der Bahnanlagen zuständig und hat mit der mittlerweile privatwirtschaftlich betriebenen Deutschen Bahn AG entlang des Streckennetzes ein erstes Sicherheitsnetz ausgeworfen, das hoheitliche Kontroll- und Sicherungsaufgaben auf der einen mit der Übertragung des Hausrechts an den BGS auf der anderen Seite verbindet. Zeitgleich verliert mit der Auflösung der Bahnpolizei das Bundesverkehrsministerium seine Zuständigkeit an den Bundesinnenminister. Im September 1997 wurde der BGS so restrukturiert, daß neben den kasernierten Bundespolizisten nun in vier einzeldienstlichen Aufgabenfeldern 18 600 Beamte zum Einsatz kommen: Seitdem greift der BGS, unterteilt in grenzpolizeiliche (7 000 Beamte), bahnpolizeiliche (5 540) und Luftsicherheitskräfte sowie Einheiten für den polizeilichen Schutz von Bundesorganen (800), immer stärker in die polizeiliche Länderhoheit ein.

Entlang der Grenze, erläutert Markus Hellenthal, Referatsleiter Bundesgrenzschutz im BMI, verläßt die BGS-Strategie "die starre Grenzlinie und richtet ihr grenzpolizeiliches Augenmerk auf den Grenzraum". In einem 30 Kilometer breiten Streifen, so ist es in den Landespolizeigesetzen von Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen schon festgeschrieben, gehören verdachts- und ereignisunabhängige Kontrollen mit Bezug auf das Schengener Durchführungsabkommen bereits zum Alltag - der BGS will diese Befugnis nun flächendeckend auf das gesamte Bundesgebiet ausweiten. Abgesehen davon, daß etwa Thüringen weder eine Schengen-Binnen- noch eine Schengen-Außengrenze hat, widerspreche, so der in Villingen-Schwenningen lehrende Polizeiexperte Thomas Feltes, diese Praxis "zumindest dem Geist des Schengener Abkommens", wonach die Bewegungsfreiheit nicht nur beim Grenzübertritt, "sondern auch darüber hinaus" regelmäßig kontrollfrei bleiben solle. Kanthers Vorstoß einer "jeweils situationsgerechten weiteren Anpassung" über den 30 Kilometer tiefen "Sicherheitsschleier" hinaus zielt dagegen auf eine Praxis wie in Baden-Württemberg, wo bereitsTank- und Raststätten, Häfen und Anlegestellen sowie neben Bundesautobahnen und Europastraßen auch Durchgangsstraßen für verdachtsunabhängige Kontrollen freigegeben sind.

In den zu Shopping-Malls umgebauten Bahnhöfen und deren Umfeld verfolgen die binnen Jahresfrist um 20 Prozent aufgestockten BGS-Einheiten und der bahneigene private Sicherheitsdienst seit 1994 gemeinsam Straftaten sowie Ordnungswidrigkeiten. Im Interesse der "Gemeinschaft der Wohlanständigen" (Bahn-Slogan) sprechen sie Hausverbote und Platzverweise aus. Der Einsatz des BGS und seine Aufgabenausweitung waren dabei hoch kompatibel mit den Geschäftsinteressen der Deutschen Bahn AG, so der in Lübeck lehrende Dozent für Polizeiführungswissenschaften, BGS-Oberrat Peter-Michael Kessow, denn die alte Bahnpolizei "als kostenverursachender Teil paßte im Prinzip nicht mehr in das neue Konzept der Bahn AG". Jährlich spart die Bahn seitdem etwa 240 Millionen Mark, während - ausgehend von den 6 500 Fernbahnhöfen - der BGS die Innenstädte erobert.

Denn im Rahmen des von Kanther initiierten "großstädtischen Modellvorhabens in der 'Aktion Sicherheitsnetz'" ist der Bundesgrenzschutz auch auf kommunaler Ebene auf dem Vormarsch. Was auf nationaler Ebene als flächendeckendes BGS-Sicherheitsnetz daherkommt, wird nun auch kleinräumig umgesetzt. In Berlin stehen dafür neben den drei Fern- auch die S-Bahnhöfe als "Headquarters", so die S-Bahn GmbH, zur Verfügung. Während sich Hannover und München noch auf ihren Modelleinsatz vorbereiten, finden in Berlin die als "Gemeinschaftsaktionen" bezeichneten Modelle "Saubere Stadt Berlin" und "Sicherheit und Sauberkeit auf Bahnhöfen" mit Razzien, Vertreibungen an den Stadtrand und Hausdurchsuchungen bei Graffiti-Sprühern bereits Eingang in die Statistik. Was schon bisher durch Gefahrenabwehr- und Sondernutzungsverordnungen, durch Präventionsratsmodelle und Sicherheitspartnerschaften "problem- und projektbezogen" kommunal installiert ist, soll nun auch in einer "Gefahrenabwehrverordnung des Bundes und der Länder" seinen Niederschlag finden. Dabei gehen Kanthers Initiativen einher mit der weiteren Abwicklung demokratischer Rechte.

Während einer Anhörung zu den geplanten Kontrollen fragte am 15. Juni im Bonner Innenausschuß der FDP-Sicherheitspolitiker Max Stadler nach Bayerns mageren Ergebnissen bei dieser Praxis auf Landespolizei-Ebene und nach den "Selektionskriterien" für solche Methoden. Gehe es um Hautfarben, mithin um rassistische Kriterien oder führe der nicht mitgeführte Ausweis etwa zur erkennungsdienstlichen Behandlung, wollte er wissen und sah "Änderungsbedarf". Auch Günter Graf (SPD), ansonsten eher Schengen-Fan, meldete Bedenken an. Die geladenen Gutachter, unter ihnen Ulrich Stefan von der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen und der ehemalige Polizeipräsident von Düsseldorf, Hans Lisken, hatten in ihren Expertisen Kanthers Plänen ohnehin eine Absage erteilt.

Im schlecht besuchten Ausschuß fand sich auch Otto Schily (SPD) ein, Gerhard Schröders designierter Innenminister, der als heimlicher Verfechter der Pläne gilt: "Kam, sah und schwieg - ging zeitig", so ein Beobachter. Hinter den Kulissen sucht Schily gemeinsam mit Niedersachsens Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) Mehrheiten für einen schwachen Kompromiß: Der BGS soll dieselben erweiterten Kompetenzen erhalten, wie Kanther sie fordert; er soll sie aber nur dann wahrnehmen dürfen, wenn ihm ein "Lagebild", also ein Verdacht auf eine schwere Straftat, vorliegt. Trotz dieser Gummi-Bestimmung soll die PDS, so war zu hören, ihre Augen hoffnungsvoll auf die SPD gerichtet haben, wenn der Bundesrat befragt wird. Nach Ansicht von Bundesinnenminister Kanther wird das aber trotz des Eingriffs in die polizeiliche Länderkompetenz gar nicht nötig sein, da es sich bei seinem Entwurf ja nur um eine Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes handle. Die SPD-dominierte Länderkammer hat ohnehin bereits angekündigt, das Gesetz ohne Beratungsfristen zu behandeln, damit auch ganz gewiß alles vor der Bundestagswahl im Herbst unter Dach und Fach kommt. Knapp vor der Wahl wollen sich die Sozialdemokraten offenbar auf keinen Fall dem Vorwurf aussetzen, beim Thema Innere Sicherheit zu blockieren.

Trotz solcher Eile vertagte der Innenausschuß am 17. Juni das Thema noch einmal. Vielleicht, bis wieder Ergebnisse wie aus Rheinland- Pfalz vorliegen. Dort erbrachte ein "Landesfahndungs- und Kontrolltag" am 10. Juni "auf Durchfahrtsstraßen, Autobahnen, aber auch in Spielhallen und Gaststätten" bei 12 393 kontrollierten Personen 138 "Treffer"; darunter 50 Betrunkene am Steuer und knapp 30 Ausländer im falschen Meldebezirk.