Alles Macht das Volk!

Großdemo gegen Kohl. Mit SDAJ, MLPD, DKP, PDS, Herrn Richter und Musik von Hannes Wader

Hey Mann, den kenn' ich doch, oder?! Diesen Typen da mit der SDAJ-Fahne, diesen Redskin. Ja klar, ey, der lief auch schon vor zehn, 15 Jahren mit dieser Fahne rum. Damals, als wir alle wegen der Nato-Nachrüstung auf der Straße waren. Mannomann, den gibt's also immer noch. Der war damals noch so'n Stöpsel. Na, ich ja auch. Aber daß der immer noch mit derselben Fahne durch die Gegend rennt Ö Sachen gibt's.

Ich stehe am neuen Velodrom, da, wo früher die Werner-Seelenbinder-Halle stand. Auf dem Parkplatz findet heute am Samstag, den 20. Juni, eine der fünf Auftaktkundgebungen für den Sternmarsch statt. "Aufstehen für eine andere Politik" lautet das Motto, und ich bin also extra aufgestanden, obwohl der Abend gestern lang war, holla!

Aber natürlich bin ich für eine andere Politik, und natürlich wollen die KollegInnen eine Reportage über diese Anti-Kohl-Demo haben. Und klar, daß es mal wieder mich erwischt hat. Jetzt steh' ich hier also in der Sonne und fühl' mich mindestens zehn Jahre zurückversetzt.

Alle, alle sind sie wieder da: die DKP, die MLPD, die Trotzkisten, die ganzen Gewerkschaftsheinis, DFG/VK, DIDF, die Falken. Nur die PDS, die gab's damals noch nicht in Mutlangen, Hasselbach und auf den Ostermärschen in Köln und Düsseldorf und beim UZ-Pressefest in Duisburg. Also werden nun dem westdeutsche Sektencocktail ostdeutsche Seniorinnen und Senioren, die sich vor allem "Gegen das Rentenunrecht!" aussprechen, zugemischt.

Neu ist auch eine Gruppe namens Linksruck, die 1 000 Pappschilder mit Holzlatten mitgebracht hat und diese gratis unter den DemonstrantInnen verteilt. "Kohl und Kanther feuern!" steht darauf und die messerscharfe Faschismusanalyse: "Politik der Mitte überläßt Krisenopfer den Nazis". In diesem Zombie-Park fehlt jetzt nur noch die junge Welt, warum verteilt denn hier eigentlich niemand die junge Welt?

Aber Uwe-Jens Heuer ist da, immerhin. Der PDS-Bundestagsabgeordnete, der immer so leidenschaftlich gegen die Diskriminierung der Ostdeutschen kämpft. Und jetzt redet auf der Bühne Wolfgang Richter, Vorsitzender des Ostdeutschen Kuratoriums der Verbände, das ist der Ostalgiker-Dachverband. Erst macht man die Ossis arbeitslos und arm, und dann nimmt man ihnen auch noch die Datschen weg, schimpft Herr Richter lautstark ins Mikrofon. Es sei durchaus angemessen, von "Kolonialisierung" zu sprechen, und wie man mit den Ostdeutschen umgehe, das sei ja im Grunde "Apartheidpolitik". Applaus vom Publikum (Ost).

Ein Herr mit kurzärmligem Freizeithemd, Brille, grauen Haaren trägt ein Schild: "Gleiche Rechte für Ostdeutsche - Für Recht und Würde". Würde? Was meint der Mann? Ich will ihn gerade fragen, da bauen sich direkt vor ihm zwei Herren mit einem Transparent auf: "Arbeit für alle heißt Würde für alle". Ach so, na dann wäre das ja geklärt. Doch nicht nur um die armen Ossis, auch um die Rechte der AusländerInnen in Deutschland sorgt man sich hier. Eine evangelische Ausländerbeauftragte redet und bekommt auch ein wenig Beifall.

Zwei Senioren tragen ein aufwendig gestaltetes Transparent: "Revolutionäres Handeln in Freundschaft mit allen Völkern! Bündnisse organisieren! Das MACHT das VOLK". Zu ihnen gesellt sich ein weiterer Opa mit einer riesigen roten Fahne mit gelben Fransen rundrum. Darauf steht: Bund der Kommunisten. Darunter der dreiköpfige Marxengelslenin. Aber auch junge Leute sind da, im Ostermarsch-Outfit. Ein freches T-Shirt mit Politparole und zu Hause ein "Why?"-Poster an der Tür, kenn' ich doch alles, hatte ich auch - damals!!! Sind sie die Vorboten des seit Monaten vorausgesagten Achtziger- Revivals, oder sind sie einfach nur übriggeblieben? Nein, dafür sind sie zu jung. Nur die mit dem blauen FDJ-Lastwagen, das sind eindeutig Übriggebliebene. Nix da von wegen Freie Deutsche Jugend. Deutsch vielleicht, aber ansonsten

Die Demo setzt sich in Bewegung. Alle möglichen Leute haben sich von den AktivistInnen der Gruppe Linksruck ein Plakat in die Hand drücken lassen und laufen nun damit herum. Die Linksruck-Leute freuen sich. Ich frage einen, von welcher Sekte sie denn abstammten, DKP, MLPD, Spartakisten oder Trotzkisten? Der Typ mit Che-Guevara-T-Shirt erklärt, vor allem von den Jusos.

Also immer noch dieselbe Schutzbehauptung wie seinerzeit. Naja, was kümmert's mich. Auch prominente PDS-Politiker laufen mir übern Weg: Alt-DKPist Wolfgang Gehrcke, der hier vermutlich ähnliche déjˆ-vu-Erlebnisse hat wie ich, Petra Pau, Rolf Kutzmutz

Ich begleite die rund 6 000 Anti-Kohlisten zum Alexanderplatz, wo die Abschlußkundgebung sein soll. Es ist echt alles genau wie früher. Aus einem Auto der DKP läuft Musik von Hannes Wader: "Es ist an der Zeit", und die PDS-RentnerInnen rufen "Arbeit für alle!"

Wollen die echt wieder ans Fließband? Na, bitteschön. Oder - da kommt mir so ein Verdacht - geht's denen vielleicht nur darum, daß wir Jungen fleißig schuften sollen, damit für sie mehr im Rententopf ist? Na, egal. Wahrscheinlich meinen es alle einfach nur gut. Da fällt mir auf, daß sich doch noch etwas verändert hat. Ich werde nicht mehr alle zweihundert Meter von einem SDAJler angesprochen, ob ich nicht Mitglied werden und Elan abonnieren möchte. Immerhin.

Am Alex kommt grad' noch eine andere Demo an. Ist ja ein Sternmarsch. Insgesamt versammeln sich jetzt so 20- bis 30 000 Menschen auf dem Platz. Das sind zwar nicht die angekündigten 100 000, aber immerhin kein völliger Flop - und es ist ja auch Fußball-WM, das darf man nicht vergessen.

Von der riesigen Bühne her dringt immer wieder das unangenehme Wort "Arbeit". Da hör' ich lieber gar nicht hin.

Ich hol' mir statt dessen ein frischgezapftes Bier und setz' mich ein wenig abseits an einen Baum in die Sonne. Ich muß an Annette denken, meine große Liebe aus der Friedensini. Was die wohl heute so macht? Das waren Zeiten

Ich hab' sogar einmal ein Transparent getragen "Weiter so, Gorbi!" Mensch, das darf man heute keinem mehr erzählen.

Plötzlich steht Täve Schur vorne auf der Bühne und sagt, daß in der DDR alle eine Arbeit gehabt hätten und die Jugend noch voller Hoffnung gewesen sei. Und der Pfarrer Schorlemmer tritt zu ihm und sagt, alle müßten immer mit allen reden, und das Leben sei ein großer Runder Tisch. Dann kommt Franz-Josef Degenhardt ans Mikro und singt die Internationale.

"Ö Hey, hey du, du holst dir noch 'nen Sonnenbrand!" Ein junger Typ mit Rastalocken schüttelt mich an der Schulter. Ich muß eingeschlafen sein. Von Täve ist weit und breit nichts zu sehen, auch Degenhardt ist nicht da. Aber Dietrich Kittner steht auf der Bühne. Also alles in Ordnung.