Socken unterm Weihnachtsbaum

oder: Willi Winkler schenkt dem Feuilleton eine Anthologie

Schlägt man im Lexikon unter dem Stichwort "Bestiarium" nach, so erfährt man, daß es sich dabei um den Titel mittelalterlicher Tierbücher handelt. 1920 hatte sich Franz Blei diesen Begriff zunutze gemacht, um in seinem "Großen Bestiarium der modernen Literatur" eine "so kurze wie anschauliche und genaue Beschreibung derer lebenden Tiere zu geben, so ans Licht der Bücherwelt zu stellen Gott dem Herrn gefallen hat und soweit sie im Gebiete der deutschen Sprache wesen und unwesen".

Was sich Willi Winkler gedacht haben mag, als er seinem Versuch "über den deutschen Typus an und für sich" (Klappentext) den Untertitel "Ein Bestiarium" verpaßte, bleibt nach der gut anderthalbstündigen Lektüre der gesammelten Annotationen zu mehr oder minder illustren Zeitgenossen ein Rätsel. Wollte er den Deutschen "an und für sich" als eine besondere Spezies vorführen, ein neues Element der Fauna, erprobt im Waldgang und sonstiger Naturbegeisterung, wollte er einen gar kritischen Beitrag zur psycho- oder gar ideologischen Konstitution dieser Spezies leisten, oder wollte er bloß andeuten, daß er sein Erstlingswerk in guter literarischer Tradition gesichert glaubt? Das Bild des auf dem Umschlag posierenden Stockerpels ist wohl einem Bestiarium entnommen, aber des Rätsels Lösung offenbart es nicht.

Eines aber ist gewiß: Willi Winkler kennt sie alle, von Dieter Bohlen im Norden bis Uschi Glas im Süden, von Michael Born im Westen bis zu Peter Glotz im Osten, zwar nicht persönlich, aber als die Personen, die das ausmachen, was man hierzulande Öffentlichkeit nennt, und die in dieser Öffentlichkeit auf je spezifische Art auffällig geworden sind. Wer auch nur hin und wieder einen Blick in eine Tages- oder Wochenzeitung wirft oder den Fernseher einschaltet, wird den gesammelten Peinlichkeiten unweigerlich begegnet sein. Alle von Winkler zumeist zu Recht verspotteten Personen sind in Zeitungsfeuilletons und Talkshows unendlich oft, mal ernsthaft, mal süffisant, mal satirisch, mal kritisch präsentiert und hin und wieder vorgeführt worden, so daß man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, daß die vorgebliche Erregung über diese öffentlichen Ärgernisse längst zu deren integralem Bestandteil gehört. Willi Winkler, im Hauptberuf freier Feuilletonist, dürfte dies alles bekannt sein, denn, so weiß er zu berichten, "noch dümmer ist, wer kritisiert". Wo er recht hat, hat er recht, aber warum hält er sich nicht daran?

Zu fragen ist nach dem eventuellen Mehrwert von Winklers Zusammenstellung gegenüber den im Laufe der letzten Jahre schon unzählige Male berichteten Geschichten, denen er nichts Neues hinzuzufügen weiß, wahrscheinlich auch gar nicht möchte. Winkler widmet seinen Öffentlichkeitsdarstellern jeweils einige geschwätzige Seiten, mischt dabei alles durcheinander, ein Einfall hier, ein Ausfall dort, von allem zumindest so viel wissend, daß es zu einem mal spitzen, mal stumpfen Argument reicht - der klassische Smalltalk halt. Da geht gediegenes Halbwissen, das z.B. Aussagen von Strauß kurzerhand, weil's gerade paßt, Adenauer bzw. Stoiber zuordnet und André Breton mit dem nach einem Stahlgewitter gierenden Halbstarkendarsteller Frank Castorf kurzschließt, eine Liaison mit zum Gähnen langweiligen Vorurteilen gegen "die nach '68 in die Jahre gekommenen konservativen Revolutionäre" ein - wobei man sich dann fragt, ob er seinen Lesern nun mitteilen will, daß die von ihm als Spätgeborenem so sehr gehaßliebten "frühvergreisten Achtundsechziger" schon immer "konservative Revolutionäre" waren, oder ob so mancher frühere Linksdarsteller zu Winklers Erstaunen konservativ geworden ist.

Winklers "getrüffelte Plattheiten" sind selbstverständlich nichts anderes als integraler Bestandteil jenes "Deutschfeuilletons", in dem der kritische Kritiker jene mediale Präsenz zeigen muß, die allzuleicht in pure Apologie des kritisieren Gegenstands umschlägt. Man ist halt, wie es ein alter Achtundsechziger mal prägnant auf den Begriff brachte, only in it for the money. Da ist es nur hilfreich, wenn der superillustre Faktizist und Schöngeist Herbert Burda auf die glorreiche Idee verfallen ist, Winkler und seinem Verlag wegen einer belanglosen Unstimmigkeit eine sogenannte "Unterlassungsverpflichtungserklärung" zukommen zu lassen. Das ist dann jene Art von Publizität, die einem die eigene kritische Haltung noch einmal so richtig vor Augen führt. Man bleibt sich halt nichts schuldig im Milieu.

Willi Winkler: Alle meine Deutschen. Ein Bestiarium. Mit Zeichnungen von Greser & Lenz. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 160 S., DM 38