Milou en mai

Zwischen Revolution und Modernisierungsschub. Die französische Presse resümiert den Mai 68

Man kann Dinge bekanntlich ebensogut totschweigen wie totreden. So scheint es in diesem Frühjahr in Frankreich der Fall zu sein, wo das Publikum bereits seit Ende März durch nahezu alle Medien mit Berichten und Dokumenten zur dreißigsten Wiederkehr der Revolte vom Mai 1968 überschwemmt wird.

Le Monde und Libération erfreuten den ganzen Monat Mai über mit einer täglichen Fortsetzungsgeschichte auf einer Doppelseite, und selbst die Regenbogenzeitschrift Paris-Match druckte bereits im April über mehrere Dutzend Seiten hinweg Fotoreportagen der damaligen Ereignisse ab. Die politischen Institutionen des Landes jedoch halten sich bedeckt.

So stellte der Monde am 10. Mai fest: "Die politischen Formationen schweigen über den Mai 68". Von dieser Beobachtung nimmt die Autorin des Beitrags lediglich die anarcho-syndikalistische CNT aus, deren junge Aktivisten zum Jubiläum in Nanterre ein Torten-Attentat auf Daniel Cohn-Bendit verübten, sowie die trotzkistische Ligue Communiste Révolutionnaire, deren langjähriger Sprecher Alain Krivine ebenfalls zu den Wortführern der studentischen Mai-Bewegung gehörte. Krivine beharrt darauf, daß der Mai nicht nur für die Erhebung an den Universitäten stehe, sondern auch für den dreiwöchigen Generalstreik von zehn Millionen Arbeitern.

Die Mehrheit der Kommentatoren in den Medien, zum großen Teil ehemalige Angehörige der damaligen universitären Bewegung, betont dagegen eher den Triumph der "Ideen der Studenten von 1968" - vor dem Hintergrund ihrer eigenen Etablierung. Der Mai 68 wird auf die studentischen künftigen Modernisierungseliten als Träger eines Innovationsschubs reduziert; alle in der allgemeinen Regimekrise dieses Monats aufgebrochenen, weitergehenden gesellschaftlichen Widersprüche werden ignoriert.

Die dominierende Interpretation der Bedeutung des Mai 1968 im bürgerlichen Kultur- und Ideologiebetrieb findet sich am 23. April im sozial-liberalen Wochenmagazin Le Nouvel Observateur. Hier stellt der Soziologe Gilles Lipovetsky fest: "Auf der einen Seite hat der Mai 68 die hyper-ideologischen revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts verlängert", um dann bei dem Fazit zu landen: "Der Mai 68 als politische Bewegung hat keine Zukunft gehabt; aber er hat (auf der anderen Seite) die Tiefenströmung des kulturellen Liberalismus ausgelöst." Und er erklärt das so: "Der Mai 68 hat auf gewisse Weise den neuen Geist des Kapitalismus gekennzeichnet, der bereits durch die Werbung, durch das Marketing, die Medien, das Show-Business befördert worden war, durch die Freizeitgesellschaft, welche sich Mitte der sechziger Jahre in Frankreich herauszubilden beginnt. (Ö) Der Mai 68 hat die Gesellschaft von einer Hülle von Überzeugungen befreit, die nicht mehr mit dem Neokapitalismus in Übereinstimmung war und dennoch fortbestand."

Am 2. Mai, am Vorabend war in Brüssel die Entscheidung über die Europäische Währungsunion gefallen, erfährt der staunende Leser aus einem Leitartikel des Monde: "Von einer 'Revolution' zur anderen. Vor 30 Jahren war es die Straße. Heute ist es der Euro. Trotz bedeutender Unterschiede - das Frankreich von 1968 hatte eine Periode langanhaltenden Wirtschaftswachstums, das Europa von 1998 hat über 20 Jahre wirtschaftlicher Schwierigkeiten hinter sich - ist die Revolution von 1998 sehr wohl ein Erbe der Revolte des Mai 1968. Mit dem Mauerfall 1989 und dem Ende des realen Kommunismus ist einer von den beiden Fäden, an denen die 68er Bewegung hing, gerissen. Der andere, intakt gebliebene, ist jener des Appells an die Phantasie, an die Erfindung der Zukunft und an die Träume von Brüderlichkeit." Und diese sieht der Monde "heute im Streben nach Europa wieder".

Ähnlich euphorisch argumentierte schon im Februar 1998 das Kunst- und Zeitgeistmagazin Technikart in einer Titelgeschichte über die dreißigste Wiederkehr des Mai 1968: "Heute sind der Hedonismus, die Toleranz und das libertäre Wesen, welche die 'Wütenden' von Nanterre ausdrückten, keine Forderung mehr: Diese Werte werden Tag für Tag von der jungen Generation gelebt. (Ö) Das Informationszeitalter verwischt die Grenzen, vermischt die Kategorien und bringt neue Kreuzungsformen hervor. Die neue Arbeiterpartei von Tony Blair in England stellt den ersten Sozialismus dar, der sich vollkommen zur Marktwirtschaft bekennt."

Die KP-Tageszeitung L'Humanité analysiert dasselbe Phänomen zugleich rationaler und pessimistischer. L'Humanité-Direktor Pierre Zarka schreibt: "Die Bourgeoisie nimmt das libertäre Verlangen auf. Sie bewegt, was immer sie in Bewegung versetzen kann, solange es nicht ihre Herrschaft in Frage stellt (Ö). Der Kapitalismus ändert seine Haltung. Bis 1968 war er konservativ gewesen, hielt an der gesellschaftlichen Erstarrung fest. Da die Dynamik im Lager des Protests liegt, versucht er, sie aufzunehmen, sie zu integrieren."

Als Beispiele für Veränderungen mit dem Ziel der Integration des Protests nennt Zarka die Reform der Universitäten und die Einführung neuer Managementmethoden in den Betrieben, durch die Teilen der junge Generation "neue soziale Aufstiegsmethoden eröffnet wurden, während die Massenarbeitslosigkeit einzusetzen begann". Im Ergebnis sei die Dynamik auf die Seite der Herrschenden übergegangen, die "die fortschrittlichen Kräfte, welche die Initiative verloren haben, in die Ecke des Erstarrten und Realitätsblinden" drängten.

Die französische KP, die die Bedingungen für einen Systemwechsel 1968 für "nicht reif" erachtete und der die Kontrolle über das soziale Protestpotential entglitten war, war im 1968 der Ordnungsfaktor für das gaullistische Regime und rettete es vor dem Zusammenbruch. Damit aber ging ihr eine ganze Generation von Unzufriedenen verloren, die sich in den siebziger Jahren in den Reihen der aufstrebenden und für die 68er Generation viel offeneren Sozialdemokratie Mitterrands wiederfanden.

Für die KP bietet der 30. Jahrestag der Revolte so die Gelegenheit, nach dem Verlust des sowjetischen "Modells" ihre neue Offenheit zu demonstrieren. So stellt L'Humanité-Chefredakteur Claude Cabanes in der Sondernummer vom 7. Mai fest, im Mai 1968 sei eine historische Gelegenheit verpaßt worden: "Die Kommunistische Partei verfügte tatsächlich nicht über die theoretischen, strategischen und politischen Instrumente, die ihr erlaubt hätten, die ganze Bedeutung der Ereignisse zu erfassen."

Auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums siedelt man - wie in der bürgerlich-liberalen Massenpresse - die Bedeutung von 1968 weitgehend auf der Ebene kultureller Werte an, um dieses Mal allerdings den damals vollzogenen Bruch mit soziokulturellen Traditionen zu beklagen.

So läßt sich das Figaro-Magazine im larmoyanten Tonfall der Verlierer über den Mai 68 aus. Der Essayist Paul-Marie Cožteaux begreift den Mai 1968 ebenfalls als Modernisierungsrevolte im Rahmen des Kapitalismus: "Diese Bewegung, die links zu sein behauptete, hat den Triumph des Geldes und der Medien gesichert." Zugleich sei die Bewegung in erster Linie gegen die Werte wie den Patriotismus und die Familie "und allgemein gegen die klassische französische Zivilisation" gerichtet gewesen.

Noch dramatischer klingt der Kulturbruch in der Darstellung der Rechtsextremen, für die der Mai 1968 den Ausgangspunkt der aktuellen französischen "Dekadenz" darstellt. So darf der Generalsekretär des Front National, Bruno Gollnisch, in einer Kolumne des konservativen Blattes Le Figaro vom 25. Mai ausführen: "Die Ordnung kehrte (nach den Maiereignissen) zurück, (Ö) und jedermann glaubte die Revolution gescheitert. In Wirklichkeit war sie dies keineswegs. Die revolutionären Ideen sind tief eingedrungen und werden nicht in Frage gestellt. (Ö) Die Ziele sind dieselben: Zerstörung der Nation, Zerstörung der Familie, Verweigerung aller moralischen Normen, auf die unsere Zivilisation begründet ist. Die Pflastersteine sind verschwunden, doch die Subversion ist ihren Weg gegangen."