Was nicht tun am 1. Mai?

Die "Revolutionären 1.Mai-Demonstrationen" sind die Frühlingsspartakiade der Szene. Außer Schönbohm interessiert das niemanden mehr.

Hut ab vor den alten Autonomen, die kriegen manchmal wenigstens noch mit, wenn es peinlich wird. Deshalb demonstrieren sie schon eine Weile nicht mehr mit Lenins respektive Stalins roter Garde am 1. Mai in Kreuzberg und wollen dieses Jahr ihr ureigenes Ritual nicht einmal "ganz undogmatisch" in Ostberlin zelebrieren.

Nicht daß sie eine Alternative hätten: Ein autonomes "Wochenende gegen die Leere" im März suchte "revolutionäre Inhalte" und fand sie nicht. Außer einigen Veteranen und ganz wenigen jüngeren Aktivisten war auch niemand weiter zum Suchen erschienen. Die Autonomen sind Geschichte. Schon der 1995er Autonomie-Kongreß war das, was viele befürchteten und andere erhofften: der Abgesang auf eine Bewegung der achtziger Jahre mit großen Demos und prima Randale.

Das entstandene Vakuum gilt es zu füllen, meinen manche. Ausgerechnet die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) nimmt sich jetzt der Sache am 1. Mai in Ostberlin an: "Entweder wir mobilisieren in Berlin 10 000 Leute (die ansonsten oft gar nicht auf Demos gehen), oder wir mobilisieren sie eben nicht." Nur gut, daß es Genossen gibt, die nicht an falscher Bescheidenheit leiden und etwas von Organisation und Mobilisierung verstehen. Ist sie also endlich (wieder) da, die radikale Linke?

Zweifel scheinen angebracht: Trotzdem der 1. Mai ganz realitätsvergessen ein revolutionärer sein soll - mit weniger gibt man sich nicht zufrieden -, wird die Inhaltsleere auch durch alte und ganz alte Parolen nicht zu kitten sein. Selbst der Rückgriff auf vulgärmarxistische Ideologiemuster verspricht wenig Schmerzlinderung. Klar, die Revolution ist eine permanente, fängt bei sich selbst an, sie ist großartig und alles andere nur Quark; aber was heißt das eigentlich? "Ihr werdet's nicht vermuten: Wir sind die Guten!" darauf kann man alles zusammenkürzen.

Zur personellen gesellt sich also auch die intellektuelle Ausdünnung. Die soziale Frage drängt und wird von rechts schon beantwortet: mit Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus auf der einen, mit Neoliberalismus, konservativem Rollback und innerer Sicherheit auf der anderen Seite. Natürlich ist es notwendig, Gegenpositionen zu artikulieren - aber doch bitte nicht im Szene-Muff, sondern dort, wo der Gegner steht, und möglichst mit den Ausgegrenzten zusammen. Darauf aber läßt man sich nicht ein, sondern spielt lieber einmal pro Jahr revolutionäres Subjekt im eigenen Kiez. Während am 1. Mai in Berlin mit radikaler Attitüde posiert wird, für die sich außer dem Innensenator und seinen harten Jungs kaum jemand interessiert, werden 200, 100 oder nur 50 Kilometer vor den Toren der Metropole national befreite Zonen geschaffen.

Im Moment diktieren uns die Nazis, wie am 1. Mai in Leipzig, den Terminkalender. Das ist bitter, aber wahr. Antifa heißt schon lange nicht mehr Angriff - das muß man erst einmal zur Kenntnis nehmen. Vor diesem Hintergrund ist es fahrlässig, nicht mit aller (verbliebenen) Kraft Widerstand zu leisten, wenn Nazis zu einer existentiellen Bedrohung für viele Menschen außerhalb der Kiezgrenzen werden. Feige oder zumindest bequem verhält sich, wer sich nicht aus Berlin hinausbewegt.

Nachdem die Kreuzberg-Demo in den letzten Jahren zum Stelldichein der ganz Beschränkten von RIM-Maoisten bis RAI-Stalinisten mutiert ist, soll die Ost-Demo am Luxemburg-Platz nach dem Willen der AAB nun wieder zusammenführen, was nicht zusammengehört. "Strömungsübergreifend" nennen es die Organisatoren, wenn sie Seit' an Seit' mit Leuten marschieren, die nach der nächsten Revolution Lager auch für unsereins bauen würden. Nur gut, daß es soweit auf absehbare Zeit nicht kommen wird.

Natürlich werden sich bei den Demonstrationen, ob ganz orthodox in Kreuzberg oder "strömungsübergreifend" in Ostberlin, nicht wenige einreihen. Doch was bringt das? Die meisten der 1. Mai-Demonstranten bekommen das ganze Jahr den Hintern nicht bewegt. Ausschließlich zu den Frühjahrs-Spartakiaden schaffen sie es, sich mit fiesen Gesichtern und ganz viel Wut und wahlweise Trauer kollektiv durch den Kiez zu bewegen.

Wenn in Berlin die Deutschlandmeisterschaften zwischen dem 1. FC Kapuzenpulli und Schönbohms grüner Garde ausgetragen werden, ist die sächsische Regionalliga in Leipzig vergessen. Nur "Polit-Cracks" (Zitat AAB) ziehen auch den auswärtigen Veranstaltungsort im unbekannten Feindesland in Erwägung, oder beehren gar beide Veranstaltungen.

Die Ostberliner Demonstration, in die Abenddämmerung verlegt, mit "kraftvollem" Auftreten und militantem Habitus angekündigt, wird unvermeidlich in einer mächtigen Hauerei mit der Polizei enden. Von politischer Intervention und Vermittlung radikal-linker Inhalte wird nicht viel zu spüren sein.

Nach dem Versorgen der Wunden oder überstandenem Polizeigewahrsam kehrt für 364 Tage wieder der zumeist unpolitische Alltag zurück, unterbrochen nur von obligatorischen Prozeßkosten-Solipartys. Damit es auch 1999 wieder heißen kann: "Same procedure as every year!"

Vieles in der Linken ist ein schlechtes Remake einer historischen Vorlage, der "Revolutionäre 1. Mai" ebenso wie die "Antifaschistische Aktion". Beides erinnert an Marx' Bemerkung aus dem "18. Brumaire", wonach sich Geschichte oft zweimal ereignet - das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Den Teilnehmern des Mummenschanzes gibt Marx zu bedenken: "Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen berschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm."