Nach-Singer

Die bioethische Logik der Berechnung des Lebenswerts hat auf den Entwurf der Sterbehilferichtlinien der Bundesärztekammer abgefärbt

"Die Sterbehilfe erleichtern?" fragte Die Woche vor zwei Monaten auf der Titelseite rhetorisch, denn auf Seite zwei war die publizistische Schlacht gegen ein "überaltetes" Euthanasie-Verbot in Deutschland auch schon geschlagen: 870 von 1 000 Befragten hatten sich in einer Forsa-Umfrage für die passive Sterbehilfe ausgesprochen. 630 befürworteten gar aktive Maßnahmen des Arztes zur Lebensverkürzung, 24 Prozent davon wollten gern die Entscheidung über Leben und Tod des Patienten vom Wunsch seiner Angehörigen abhängig machen.

Zur gleichen Zeit hatte die deutsche Ärzteschaft nach Königswinter geladen, um im sorgfältig sortierten Kleinkreis über die neuen Richtlinien zur Sterbehilfe zu diskutieren, die die Bundesärztekammer im April 1997 vorgelegt hatte. Der zwei Din-A-4-Seiten lange Entwurf "zur ärztlichen Sterbehilfe" beginnt mit einem Bekenntnis zum ärztlichen Ethos des Helfens. Unter Punkt II wird über den Behandlungsverzicht bei unheilbar Kranken nachgedacht. Menschen im Wachkoma sollen sterben "dürfen", wenn dies dem "mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht". Zur Ermittlung dieses mutmaßlichen Willens sind nach Auffassung der Bundesärztekammer insbesondere die "Risiken bleibender Behinderungen" zu berücksichtigen. Auch schwerbehinderte Neugeborene, die nur mit "außergewöhnlichen Hilfsmitteln am Leben gehalten werden können", sollen nach Absprache mit den Eltern dem sicheren Tod überlassen werden dürfen. Dieses tödliche Mitleid der Ärzteschaft verdankt sich nicht einer spontanen Gefühlsregung. Wachkoma-Patienten sowie Neugeborene mit Behinderungen stehen in der neuen Euthanasie-Debatte, die in Deutschland seit gut zehn Jahren intensiv geführt wird, im Mittelpunkt des Feilschens um die Frage, bei welcher Behinderung das Töten eine Erlösungstat ist.

"Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben?" lautete der Titel des Vortrags, für den sich der australische Bioethiker Peter Singer am 9. Juni 1989 in der Universität Dortmund angesagt hatte. Massive Proteste der Behinderten verhinderten die zu erwartende Fachsimpelei über legitimen Mord auf der Krankenstation, hatte Singer doch in seinem Buch "Praktische Ethik" die Tötung behinderter Säuglinge gerechtfertigt. Die weltweite Verbreitung seiner Gedanken jedoch war nicht zu stoppen.

Es scheine, schrieb Singer, "daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches wegen einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann". Die Tötung eines behinderten Säuglings, fügte er hinzu, sei meistens überhaupt kein Unrecht. Das gelte auch für Erwachsene, die auf der "geistigen Reifestufe eines Säuglings stehengeblieben sind". Denn nur vollwertige Menschen, die rational, autonom und selbstbewußt handeln können, sind Personen in seinem Sinne und sollen ein Recht auf Leben haben. Was nützt einem Menschen schon der verfassungsrechtliche Schutz seines Lebens, fragt diese Moral, Klon des Äquivalententauschs, wenn er es gar nicht genießen kann?

Mit der Etablierung der Debatte um das untragbare Los behinderter Kinder, die in Singer ihren bekanntesten Protagonisten fand, wurden die Ansprüche an die biologische Ausstattung zusehends strenger. Ging es zunächst um gehirnlos geborene Säuglinge, diskutierten die Fachleute bald den Lebenssinn von Menschen mit Down-Syndrom. Schließlich fragte Singer, ob bluterkranke Säuglinge am Leben bleiben sollten, wenn deren Tod die Eltern "zur Geburt eines anderen Säuglings mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben" veranlasse. Denn in diesem Fall, bilanzierte der Utilitarist unverdrossen, "ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird".

Eine Welt ohne Leid und Behinderte: so totalitär die Vision ist, verwirklichen soll sie sich selbstverständlich nicht durch das geheime Treiben hysterischer Faschisten, sondern durch verantwortungsvolles Abwägen aufgeklärter Eltern. Die sollen, fordern prominente angelsächsische Bioethiker, nach der Geburt ihres Kindes wenigstens einen Monat Zeit bekommen, um zu entscheiden, ob sie das Kind haben wollen. Schließlich, weiß Singer, könne man getrost voraussetzen, "daß die Eltern nicht wollen, daß das behinderte Kind lebt".

Die Ursprünge der Euthanasie-Debatte liegen in den Jahren nach 1966, als die westlichen Industrienationen von einer schnellen Folge von Rezessionen überrascht wurden. Der entscheidende Anstoß kam aus Großbritannien. Der Kinderarzt John Lorber aus Sheffield, dessen Behandlung von Spina-bifida-Kindern zu großen medizinischen Fortschritten geführt hatte, kündigte bereits 1971 die Tötung behinderter Neugeborener in seiner Klinik öffentlich an. Lorber hatte errechnet, daß 80 Prozent der Kinder trotz teurer medizinischer Versorgung behindert waren, und plädierte für eine "selektive Behandlung", was in der Praxis die Tötung ab einem bestimmten Grad prognostizierbarer Behinderung bedeutete.

Doch ab wann konnte das Leben eines Säuglings als "lebensunwert" gelten und damit seine Tötung als Gnadenakt verkauft werden? Schnell richtete sich das Interesse der Bioethiker darauf, eine mathematisch präzisierte Formel zur Bestimmung des Lebenswerts von Menschen zu entwickeln. Bereits 1975 konnte der Kinderarzt Anthony Shaw eine erste Formel für die potentielle Lebensqualität von Neugeborenen präsentieren. Dazu multiplizierte er die in Zahlenwerte übersetzten Veranlagungen des Kindes mit der Summe, die sich aus der familiären und gesellschaftlichen Zuwendung errechnete. Das hieß im Klartext, daß die Behinderung des Kindes gar keine Rolle mehr für seine erwartbare Lebensqualität spielte, wenn weder die Eltern noch die Gesellschaft das Kind haben wollten. Dieses Töten nach Zahlen ging selbst einigen seiner Kollegen zu weit. Doch ein wichtiger Impuls aus dieser Debatte war nicht so sehr der Einsatz des Taschenrechners am Krankenhausbett, sondern der neue Konsens darüber, daß Sterbehilfe nun auch bei Menschen denkbar war, bei denen von Sterben nicht die Rede sein konnte.

Der neuerliche Entwurf eines Lebenswert-TÜVs für behinderte Kinder hat nach Auskunft der technischen Leiter freilich mit Euthanasie nach Nazi-Art nichts zu tun. "Unter dem Deckmantel eines sogenannten Euthanasie-Programms", schimpft Singer, "wurden von den Nazis Zehntausende geistig Behinderter ermordet, die durchaus fähig waren, ein Weiterleben zu wünschen und ihr Leben zu genießen." Der krude Ökonomismus und Rassenwahn, wie ihm die Nazis huldigten, mißfällt den strengen Rationalisten. Sie begeben sich, um ihren Daumenzeig am Krankenbett zu rechtfertigen, in die Innenperspektive der Betroffenen. Wie aber soll dieses Rezept z.B. bei Säuglingen aufgehen? Daß die nicht gefragt werden können, schreckt die Bioethiker nicht. Denn eine subjektive Bewertung des Lebens, so der deutsche Nach-Singer Norbert Hoerster, "bedeutet freilich nicht, daß es nicht gewisse Lebensaspekte gäbe, die nach einer allgemein geteilten Einschätzung den Lebenswert in hohem Maße zumindest mitbestimmen". Und nach der Kalkulation des Mainzer Rechtsphilosophen besitzt "ein Leben mit dem Defizit einer Schädigung oder Behinderung (...) einen geringeren Eigenwert wie Fremdwert als ein Leben ohne dieses Defizit".

Im Unterschied zur Rassenhygiene hat die Bioethik das Selektionsraster feiner eingestellt. Der alte Erbgesundheitskatalog kann eingemottet bleiben, solange die Norm des modernen autonomen Hedonisten regiert, die gegen alles Totalitäre geimpft scheint. Das Mitleid der neuen Euthanasie-Propagandisten kann sich so als ideologiefrei begreifen. Die Tötung "lebensunwerten" Lebens heißt jetzt mercy killing. Und mit dieser Wohltat bis zum Eintritt der Sterbephase zu warten, hieße nach der immanenten Logik nur, das sinnlose Leid zu vergrößern. Die Fernwirkung des alltäglichen bioethischen Abwägungsdiskurses, der das Reservat der Fachinstitute längst verlassen hat, hat auch auf die neuen Richtlinien der deutschen Bundesärztekammer abgestrahlt.

1979 hatte die Bundesärztekammer erstmals Richtlinien für die Sterbehilfe erarbeitet. Diese Richtlinien, denen allein die Autorität der ärztlichen Vorstandsetage eine informelle Rechtskraft verlieh, waren noch unmißverständlich auf Personen beschränkt geblieben, deren Tod nach allem ärztlichen Ermessen in kürzester Zeit eintreten würde. In der jetzt diskutieren Neuauflage, stellt Therese Neuer-Miebach von der "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung" fest, "hat sich der Handlungsrahmen der Ärzte drastisch erweitert. Heute geht es nicht mehr nur um den humanen Umgang mit Sterbenden. Es geht um die Legitimation des Behandlungsabbruchs in einer Phase, die noch weit vor dem Eintreten des unumkehrbaren Sterbeprozesses liegt. Die Anpassung an den bioethischen Mainstream in der Euthanasie-Debatte ist unübersehbar. Darin liegt eine neue Qualität."