Bomben und Sanktionen

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag erklärt sich im Lockerbie-Verfahren für zuständig. Die Sanktionen gegen Libyen bleiben jedoch in Kraft

"Wir sind überglücklich. Dies ist ein großer Sieg für die Justiz und Libyen", jubelte Hamed Hudeiri, libyscher Botschafter in den Niederlanden, über die Vorentscheidung des Internationalen Gerichtshofes. In der Tat gibt der Beschluß des Gerichts in Den Haag nach der nunmehr sechs Jahre andauernden Wirtschaftsblockade gemäß den völkerrechtlich umstrittenen Resolutionen 731 und 748 des UN-Sicherheitsrates gegen Libyen Anlaß zu Optimismus im nordafrikanischen Wüstenstaat.

Die USA und Großbritannien hatten gefordert, die beiden vermeintlichen libyschen Drahtzieher des Bombenattentats auf eine PanAm-Maschine über der schottischen Ortschaft Lockerbie vom Dezember 1988 auszuliefern und einem schottischen oder US-amerikanischen Gericht zu überstellen. Nun aber gab der Internationale Gerichtshof seine alleinige Zuständigkeit für den Fall bekannt.

Im Hinblick auf das vorrangige Ziel der libyschen Regierung, die Aufhebung der UN-Sanktionen, hat sich allerdings nichts geändert. Ende vergangener Woche überprüfte der Sicherheitsrat die Sanktionen routinemäßig - vorgeschrieben ist dies im 120-Tage-Turnus. Eine Lockerung der Sanktionen wurde nicht beschlossen, weiterhin bleiben die libyschen Guthaben im Ausland eingefroren, Import von Ausrüstungsgütern für die libysche Ölindustrie bleiben ebenso wie Waffenhandel mit dem nordafrikanischen Land untersagt, und im Luftverkehr bleibt Libyen isoliert.

Bereits 1992 hatte die libysche Führung eine Klage gegen das Auslieferungsbegehren der USA und Großbritanniens eingereicht; zudem hatte sie einen Antrag auf eine Einstweilige Verfügung vor dem Den Haager Gericht gestellt, um das drohende Luft- und Waffenembargo durch den Weltsicherheitsrat doch noch abzuwenden.

Zwar wurde dem Eilantrag aus Tripolis damals nicht stattgegeben, so daß die Sanktionen des Weltsicherheitsrates kurz darauf in Kraft treten konnten. Entschieden war damit allerdings noch nicht über das libysche Gesuch, die mutmaßlichen Attentäter - gemäß der Konvention von Montreal zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt - im eigenen oder in einem, so Libyen, "neutralen" Land der Justiz zu überstellen. Diesem Anspruch tragen die Richter nun insofern Rechnung, als daß sie die libysche Klage gegen Großbritannien und die USA als legitim anerkennen. Zudem stellte der Internationale Gerichtshof beiden Staaten ein Ultimatum, in dem sie aufgefordert wurden, umgehend darzulegen, weshalb sie das Beweismaterial gegen die libyschen Tatverdächtigen zurückhalten und einen Prozeß in Libyen - im Rahmen des Abkommens von Montreal - als unverantwortlich ablehnen.

Bis heute wollen London und Washington von derlei juristischen Einwänden nichts wissen, wenn es darum geht, an Libyen ein politisches Exempel gegen den sogenannten internationalen Terrorismus zu statuieren und ihre Sanktionspolitik über den UN-Sicherheitsrat weiterhin aufrechtzuerhalten. Frühere libysche Offerten zu möglichen Entschädigungszahlungen für die 270 Opfer des Lockerbie-Anschlages - im Falle einer Verurteilung - wurden von ihnen ebenso ausgeschlagen wie der Vorschlag von Gaddafi, die libyschen Verdächtigen in einem "neutralen" Drittland vor den Kadi zu bringen. Daß die Überführung der beiden beschuldigten libyschen Agenten an ein schottisches oder US-Gericht nicht möglich sei, hatte Gaddafi wiederholt damit begründet, daß keine Auslieferungsvereinbarungen mit beiden Ländern bestünden.

Nach wie vor unklar ist, ob Libyen überhaupt als Auftraggeber für den Lockerbie-Anschlag in Frage kommt. Zu Beginn der Untersuchungen kamen westliche Inspektoren zu dem Schluß, daß viele Indizien auf ein Komplott der iranischen Führung im Zusammenspiel mit einer in Syrien stationierten palästinensischen Terror-Organisation hindeuten würden. Auch Teherans Mullahs hätten wegen des Abschusses eines iranischen Flugzeugs durch ein US-Kriegsschiff im persischen Golf ein halbes Jahr vor dem Lockerbie-Anschlag ein Motiv für das Attentat haben können. Statt weiterer Untersuchungen wurde fortan die libysche Führung zum Sündenbock erklärt. Libyen wurde zur Last gelegt, sich im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek "La Belle" und dem darauffolgenden US-Angriff auf Tripolis und Benghazi vor zwölf Jahren (vgl. Jungle World, Nr. 49/97) mit dem Terrorakt von Lockerbie an den USA gerächt zu haben.

Ungeachtet der politischen Versöhnungsgesten Gaddafis gegenüber Washington hält US-Präsident William Clinton auch weiterhin an der Embargopolitik fest. Die fehlende Dialogbereitschaft der US-Regierung erscheint insofern fragwürdig, als daß der selbsternannte "Führer der Grünen Revolution" seine Rhetorik gegen die westlichen Staaten und Israel bereits seit einiger Zeit aufgegeben hat und mittlerweile diplomatischere Töne anschlägt. Angesichts der zunehmenden ökonomischen und politischen Isolation Libyens ist auch wenig verwunderlich, daß sich Gaddafi heute deutlich pragmatischer gibt als noch in den Gründerjahren der libysch-arabischen "Jamahiriya". So bemüht er sich weltweit - angefangen bei dem Chef der US-amerikanischen Nation of Islam, Louis Farrakhan, bis hin zu Nelson Mandela - sowohl um politische Rehabilitation als auch um wirtschaftlichen Anschluß an die arabische Welt und die Staaten Südeuropas.

Zweifellos kommt der juristische Teilerfolg der libyschen Führung gegenwärtig sehr gelegen. Gesetzt den Fall, der Internationale Gerichtshof würde den Libyern im weiteren Verlauf der Verhandlungen das Recht zusprechen, über die vermeintlichen Attentäter im eigenen Land juristisch zu befinden, würde diese Entscheidung nicht nur die Sanktionen hinfällig machen, sondern auch die US-Amerikaner und Briten wegen deren Blockadepolitik gegenüber Libyen vor der Weltöffentlichkeit bloßstellen.

Die beiden Anwälte der libyschen Tatverdächtigen warnten jedoch vor übertriebenen Erwartungen und voreiligen Schlußfolgerungen aus dem vorläufigen Gerichtsbeschluß: In einem Interview mit der arabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat erklärten die beiden Verteidiger, daß Großbritannien und die USA den Beschluß anfechten und Libyens Ansprüche mit einem Veto in der Uno-Vollversammlung zu Fall bringen könnten.

Sie forderten daher sowohl die Vertreter der Arabischen Liga, die Organisation für afrikanische Einheit (OAU) als auch die Delegierten der UN-Mitgliedstaaten dazu auf, sich nunmehr entschiedener für die libyschen Ansprüche zu engagieren, um ein Ende der Sanktionen des Sicherheitsrats zu erwirken.