Keine Rolle rückwärts

Auf den ersten Blick erscheint die Aufregung über die jetzt von der Berliner Schulsenatorin Ingrid Stahmer bekanntgegebene Zulassung von geschlechtsgetrennten Klassen verständlich. Immerhin ist die Einführung der koedukativen Erziehung, in der DDR direkt nach ihrer Gründung und in der aIten Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren eingeführt, als bildungspolitische Reform gefeiert worden. Jetzt soll es also ab April in Berlin möglich sein, auf unbefristete Zeit Mädchen- und Jungenklassen einzurichten. Allerdings, und das wird bei der jetzigen Debatte häufig mißverstanden und weggelassen, ist diese Maßnahme eingebettet in die Forderung nach einer "reflexiven Koedukation". Gemeinsamer Unterricht von Mädchen und Jungen soll stärker zur Reflexion der Geschlechterverhältnisse und der jeweiligen Diskriminierungsursachen und -effekte führen.

Wer nun meint, in dieser Forderung einen Rückschritt zu sehen, hat die gesellschaftliche Debatte um Emanzipation und Gleichstellung verschlafen. Vielmehr ist sie die notwendige Konsequenz einerseits der Analysen und Aktivitäten, die von der Frauenbewegung und der feministischen Wissenschaft seit 1980 angestoßen und durchgeführt wurden, und andererseits der Erkenntnis, daß die Änderung von Strukturen nicht automatisch zum Verschwinden innerer Widersprüche führt. Die Einführung von koedukativer Erziehung als Strukturprinzip garantiert eben nicht per se die Aufhebung von Benachteiligung, die sich implizit und indirekt als gesellschaftlich dominante Kraft mit oder ohne das ausdrückliche Einverständnis der Handelnden weiterhin durchsetzt. Die Forschungen zur Koedukation heben vielmehr darauf ab und haben gezeigt, daß gemeinsamer Unterricht eben auch wieder die geschlechtsspezifische Über- und Unterordnung reproduziert, die es doch zu überwinden gilt; Jungen erhalten mehr Aufmerksamkeit von den Lehrerinnen und Lehrern, sie werden häufiger aufgerufen und unterbrechen die Mädchen, machen sich lustig über sie. Lernleistungen bei Mädchen werden eher auf "Fleiß", bei den Jungen auf "Begabung und Intelligenz" zurückgeführt. Der "heimliche" Lehrplan setzt sich vermittelt durch die Unterrichtssprache, durch Schulbuchtexte und Lernsituationen, in denen Erfahrungen des weiblichen Lebenszusammenhanges zu selten eine Rolle spielen, immer wieder durch.

Nicht verwunderlich ist daher die Bilanz, daß nach den vielen Jahren koedukativer Erziehung immer noch zu wenige Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern glänzen, sie zwar zu einem erheblich gewachsenen Teil das Abitur ablegen, aber dann nicht in Führungspositionen landen. So ist es z.B. eher die Regel, daß Männer Schulleitungsposten bekleiden. Berlin z.B. hat 68,2 Prozent männliche Schulleiter an Haupt- und Real-, 72,9 an Gesamtschulen und 72,6 an Gymnasien, obwohl der Lehrberuf eine weibliche Domäne ist; und der Frauenanteil bei den C4-Professorenstellen an den Universitäten beträgt unter fünf Prozent, obwohl etwa 42 Prozent der Studierenden Frauen sind.

Die jetzt diskutierten und geforderten Reformansätze, "reflexive Koedukation" und geschlechtsgetrennter Unterricht, sind die richtige Konsequenz: 1. Es geht nicht darum, generell das gemeinsame Lernen von Mädchen und Jungen in der Schule aufzuheben und wieder getrennte Schulen einzurichten. Unbestreitbar ist doch, daß Mädchen und Jungen lernen müssen, miteinander zu kooperieren oder Konflikte auszutragen, sich durchzusetzen, sich abzugrenzen und in einer heterogenen Gruppe eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Insofern muß auch die Schule selbstverständlich auf ein gesellschaftliches Leben vorbereiten, in dem Männer und Frauen miteinander und zwischeneinander konkurrieren und gemeinsame Ziele durchsetzen, individuelle Lebensentwürfe verwirklichen, eine berufliche Zukunft haben wollen. Es geht aber wohl darum, den "heimlichen" Lehrplan der Diskriminierung und der geschlechtsstereotypen Erziehung bewußt zu machen und zu überwinden. Das ist eine Forderung, die sich in erster Linie an Lehrerinnen und Lehrer wendet und ihnen abverlangt, eigene Verhaltensmuster zu reflektieren.

2. Darüber hinaus aber muß der Erkenntnis Rechnung getragen werden, daß gerade in naturwissenschaftlichen Fächern sich Mädchen oft zurückgedrängt fühlen und akzeptieren, daß Technik und Naturwissenschaften eine Domäne der Jungen ist. Das geschlechtspezifische Wahl- und Neigungsverhalten setzt sich dann beim Beruf oder im Studium fort. An der TU Berlin sind von den etwa 35 000 Studenten ein Drittel Frauen, dieser Anteil verringert sich noch in den technischen Studiengängen. Das Interesse von Mädchen kann sich jedoch bei geschlechtsdifferentem Unterricht erhöhen, wie Untersuchungen nahelegen. Aber die äußere Trennung setzt nicht automatisch einen Prozeß in Gang, der zu besseren Leistungen in diesen Fächern führt. Von daher ist getrennter Unterricht als ein Angebot zu begreifen, das sowohl Mädchen als auch Jungen die Chance eröffnet, eigene Bedürfnisse und Probleme zur Sprache zu bringen, mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, ohne in stereotype geschlechtsspezifische Rollenmuster gesteckt zu werden oder sich selbst an ihnen orientieren zu müssen.

Wer nichts Neues wagt, bleibt bei den alten Fehlern, und deshalb plädiere ich dafür, Jungen und Mädchen die Chance zu geben, Hierarchiemuster zu überwinden nach dem Motto "nicht gleichartig, aber gleichwertig"!

Brigitt Reich ist Stellvertretende Vorsitzende der GEW Berlin