Aufforderung zum Ableben

Bonn und die Jewish Claims Conference einigten sich auf Entschädigungszahlungen für jüdische NS-Opfer in Osteuropa

Bis die Regelung am 1. Januar 1999 in Kraft tritt, werden schätzungsweise wieder mehr als 1 000 Holocaust-Überlebende in Osteuropa gestorben sein. Zwar hat Bonn vergangene Woche - zum ersten Mal seit Kriegsende - eingewilligt, osteuropäischen Juden Entschädigungen zu zahlen, ohne die Nachbarstaaten zwischenzuschalten. Doch auch die jetzt beschlossene Übereinkunft der Bundesregierung mit der Jewish Claims Conference (JCC) folgt dem altbekannten Muster: Gezahlt wird erst dann, wenn der außenpolitische Druck, vor allem aus Israel und den USA, so groß geworden ist, daß man um finanzielle Zugeständnisse nicht mehr herumkommt. Begleitet von einer Anzeige in der New York Times, hatten vergangenen Sommer 82 US-Senatoren und die gesamte Knesset, das israelische Parlament, dagegen protestiert, daß die BRD bis heute Opferrenten an Hitlers Gehilfen in Wehrmacht und SS zahlt, sich aber weiterhin weigert, die Opfer zu entschädigen.

Nach langem Streit - auch die Verhandlungen unter Führung von Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) und Vertretern der JCC hatten sich über ein Jahr hingezogen - hat Bonn nun zugestimmt, einen Fonds für rund 18 000 jüdische Holocaust-Überlebende einzurichten. An dem eisernen Grundsatz aller deutschen Regierungen seit Kriegsende ändert aber auch die Einigung mit der JCC nichts: keine individuellen Entschädigungen an die Opfer zu zahlen. Von 1999 an wird Bonn jährlich 50 Millionen Mark an eine von der JCC einzurichtende Stiftung überweisen. Diese wiederum übernimmt dann die Verteilung der Gelder an die überlebenden Juden in Osteuropa. Berechnungsgrundlage für diese Summe war eine monatliche Rente von 250 Mark, die ausschließlich denjenigen Holocaust-Opfern zugute kommen soll, die bislang keine Entschädigung erhalten haben. Doch bereits im Jahr 2002 sollen die Zahlungen wieder aufhören. Die Bonner Regierungsbeamten beziehen die biologische Lösung in ihre Rechnungen mit ein: Wenn die Ablaßzahlungen von 200 Millionen Mark erst beglichen sind, wird sich die Zahl der Überlebenden erneut erheblich reduziert haben. Der Historiker Margers Vestermanis, selbst lettischer Überlebender des Holocaust, zeigte sich über die zeitliche Begrenzung entsetzt. Gegenüber der taz sagte er: "Das wirkt wie eine Aufforderung, doch bitte nicht mehr lange zu leben."

Mit der nun vereinbarten Regelung knüpft Bonn an seine Verpflichtung gegenüber der JCC an, im Rahmen der "Härtefallregelungen" den sogenannten Artikel-2-Fonds zu finanzieren. Erst im Januar 1996 hat der Bundestag ein bereits 1992 vereinbartes Gesetz verabschiedet, das Entschädigungszahlungen an jüdische Überlebende regelt - ausgeschlossen blieben freilich die Osteuropäer. In Israel, den USA und Westeuropa werden die Opferrenten seitdem aus einem ähnlichen Fonds finanziert, wie er nun für die Juden in Osteuropa geplant ist. Mit dem Unterschied, daß die Rentenanzahlungen aus dem Artikel-2-Fonds etwa 500 Mark betragen, also doppelt so hoch liegen wie die für Osteuropa veranschlagten. Gemessen an den osteuropäischen Lebensverhältnissen sei das jedoch eine ganze Menge, zeigten sich die JCC-Vertreter dennoch zufrieden.

Die Beweislast für Rentenansprüche tragen nicht die Rechtsnachfolger der Täter, sondern die Opfer. Zur Voraussetzung für den Abschluß machte die Bundesregierung "Mindestverfolgungszeiten" der Überlebenden. Deren Prüfung bleibt nun zwar der bei der JCC angesiedelten Stiftung überlassen. Bei der Definition, wer als Opfer gilt und wer nicht, werden jedoch die Kriterien der Bonner angelegt: Wer unter einem halben Jahr in einem Konzentrationslager oder unter 18 Monaten in einem Ghetto interniert war, geht leer aus. Auch wer zum Schutz vor den NS-Verfolgern in den Untergrund ging, muß offenlegen, daß ihm das mindestens 18 Monate lang gelang. Zudem müssen die Rentenanwärter eine finanzielle Notlage sowie während der Verfolgung durch das NS-Regime entstandene gesundheitliche Schäden nachweisen.

Nach wie vor weigert sich Bonn beharrlich, die Regelung auf alle NS-Opfer in Osteuropa auszuweiten. Seitdem 1965 noch unter Adenauer das Bundesentschädigungs-Schlußgesetz im Bundestag verabschiedet wurde, wird finanziell immer erst dann nachgelegt, wenn der internationale Druck Deutschlands internationales Renommee zu gefährden beginnt.

Zudem hat sich die Bundesregierung durch eine Reihe von zwischenstaatlichen Regelungen mit osteuropäischen Staaten, welche die Einrichtung sogenannter "Härtefonds" zum Ergebnis hatten, rechtlich abgesichert. Die auf bilateraler Ebene mit Polen, Tschechien oder der Slowakei vereinbarten Pauschalzahlungen haben Bonn immun gemacht gegenüber individuellen Forderungen von Überlebenden aus den ehemals von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten. Ausgezahlt hat sich das nun auch in den Verhandlungen mit der JCC. Immer wieder erklärte das Kanzleramt, daß nach 1991 bereits über 1,8 Milliarden Mark an osteuropäische Länder gezahlt worden seien. Die freilich reichten allenfalls für geringe Einmalzahlungen und kamen nicht immer bei den Opfern an. Ganz vergessen etwa hatte man bei den Pauschalzahlungen die baltischen Juden. Ehemalige SS- Angehörige in Lettland hingegen profitieren weiterhin von den täterfreundlichen deutschen Rentengesetzen. Auch bei der jetzt geschlossenen Einigung hat sich Bonn die Einmalzahlungen zunutze gemacht: Osteuropäische Juden, die schon den einen oder anderen Hundertmarkschein an Schmerzensgeld erhalten haben, haben nun keinen Anspruch auf Rente mehr.

Umstritten bleibt darüber hinaus der Zeitpunkt, zu dem die Regelung in Kraft treten soll. Während Vertreter des American Jewish Committee (AJC) davon ausgehen, daß die Auszahlung des Geldes bereits Mitte dieses Jahres möglich wäre, versteckt sich Bonn hinter haushaltsrechtlichen Bestimmungen: Erst 1999, so Bohl, könnte mit den Zahlungen begonnen werden. Der Direktor für europäische Angelegenheiten des AJC, Andrew Baker, warf der Bundesregierung deshalb Anfang vergangener Woche vor, die Auszahlungen bewußt zu verzögern. Die Bundesregierung forderte er erneut dazu auf, die Gelder "schnellstmöglich" zu überweisen.

Die Bonner werden sich hüten. Bohl fürchtet, wie er während der Verhandlungen mit der JCC immer wieder deutlich machte, weitere Forderungen nicht-jüdischer NS-Opfer in Osteuropa. Deshalb setzt sich das Prinzip Verschleppung durch: Mit jedem weiteren Jahr schrumpft die Zahl der Opfer. Und wenn die Zahlungen nach der Jahrtausendwende ganz aufhören, wird überhaupt keine starke Lobby mehr da sein, die noch Forderungen stellen könnte.