Angenehmer Einzelfall

"Viele haben in den Büros gesessen und geweint." Von rührenden Szenen konnte Betriebsrat Josef Völkel nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Januar berichten. Monate vorher hatte die Belegschaft begonnen, das Kernkraftwerk in Mülheim-Kärlich startklar zu machen. Vergebliche Liebesmühe - das Gericht wies die Revision des Kraftwerksbetreibers, der Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE), ab. Zum ersten Mal sorgte ein deutsches Gericht für die endgültige Stillegung eines Kernkraftwerks. Zwar könnte der Konzern jetzt das ganze Genehmigungsverfahren von vorne beginnen, doch damit rechnet niemand.

Entsprechend enttäuscht war Werner Hlubek, Vorstandsmitglied der RWE-Energie, von der Justiz: "Eines der weltweit sichersten Kernkraftwerke wird aus rein formaljuristischen Gründen weiter verhindert." Die Rede vom sicheren Kraftwerk ist schlecht gemachte Propaganda: Das Kraftwerksdesign stammt aus den sechziger Jahren und ähnelt dem des havarierten Reaktors im US-amerikanischen Harrisburg. Doch mit seinem zweiten Halbsatz hat Hlubek recht. Die RWE sind über das schlampige Genehmigungsverfahren gestolpert, nicht über radikale Atomkraftgegner an den Gerichten. Es ist die formulierte Aufgabe von Verwaltungsgerichten, "formaljuristische" Korrektheit zu prüfen. Aber als die RWE 1975 mit dem Bau des Meilers begannen, vertrauten sie darauf, daß die Gerichte es mit dieser Aufgabe nicht zu genau nehmen würden. Das Kraftwerk war ein Schwarzbau. Zwar hatte die Landesregierung unter Helmut Kohl eine erste Teilerrichtungsgenehmigung erlassen. Doch als die Planer entdeckten, daß im beantragten Konzept das Kraftwerk direkt auf einer erdbebengefährdeten tektonischen Spalte stehen sollte, bauten sie es kurzerhand 30 Meter weiter nördlich. Außerdem wurde das Maschinenhaus und der Reaktor getrennt und durch eine Rohrleitungsbrücke verbunden: eine störanfällige Konstruktion. Das alles ohne neues Genehmigungsverfahren, aber im Einvernehmen mit der Landesregierung. Und die genehmigte munter weiter. Es folgten die Teilgenehmigungen zwei bis sieben. Und so konnte Mülheim-Kärlich - trotz laufender Gerichtsverfahren - in den Probebetrieb gehen.

13 Monate lieferte der 1 300-Megawatt-Reaktor bei Koblenz Strom. Dann verfügte das Bundesverwaltungsgericht die Abschaltung - aus formaljuristischen Gründen. Wegen der nachträglichen Änderung der Pläne sei die erste Teilgenehmigung "insgesamt rechtswidrig". Es wurde ein neues Genehmigungsverfahren eingeleitet, doch das immer noch CDU-regierte Land versäumte es, die Erdbebensicherheit des Standorts neu und umfassend zu prüfen. Aus diesem Grund hob das Oberverwaltungsgericht 1995 auch die 1990 ergangene neue erste Teilgenehmigung auf. Diese Entscheidung hat jetzt das Bundesverwaltungsgericht bestätigt.

Doch der Klage-Marathon um Mülheim-Kärlich geht auf einem Nebenschauplatz weiter. Ironischerweise klagen die RWE gegen das Land Rheinland-Pfalz wegen seiner wohlwollend-schlampigen Genehmigungen und verlangen Schadensersatz. Der Streitwert liegt bei 1,5 Milliarden Mark; die Anwaltshonorare laut Gebührenordnung damit bei 17 Millionen. Einer der beteiligten Anwälte der Landesregierung legte nach Auszahlung des ersten Teilbetrags sofort sein Mandat nieder und setzte sich in der Toskana zur Ruhe. Eine formaljuristisch korrekte und im Einzelfall höchst angenehme Entscheidung.