Rot-Grün versauert in NRW

Die SPD-Spitze will mit Harmonie in Bonn an die Regierung, Innenminister Wolfgang Clement in Düsseldorf mit Konfrontation

Alle Jahre wieder zeigt sich an der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen, wie die Realität eines Regierungsbündnisses links von der CDU in Bonn aussehen könnte: Für die Aufregung sorgt allein die SPD-Rechte, für den staunenden Rest der Sozialdemokratie und erst recht die Grünen wird Regieren synonym mit Reagieren. Das einzige, was sich daran in den zweieinhalb Jahren des Düsseldorfer Regierungsbündnisses geändert hat, ist die Liste der Themen, über welche die Koalitionäre sich in die Haare kriegen können: Sie ist permanent kürzer geworden. Mit was für Forderungen war die Alternativpartei nicht in den Wahlkampf gezogen: Von der "Schließung der Abschiebehafthäuser" über den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz bis zu Umweltabgaben auf Verpackungen, Sondermüll und Grundwasserentnahme ist davon so gut wie nichts übriggeblieben. Doch auf einem Gebiet wollte man hart bleiben: "In der Energie- und Verkehrspolitik", verkündete Landesvorstandssprecher Rainer Priggen 1995 während der Koalitionsverhandlungen, "muß klar werden, daß es eine Kursänderung gibt."

Die Grünen waren damit auf ihren Gründungskonsens als eine Partei zurückgeworfen, deren Thema allein die Umwelt ist; der Kampf gegen Verkehrsprojekte wie den Bau der Autobahn A33 und den Ausbau des Düsseldorfer Flughafens wurde zu einer Frage der Existenzberechtigung. In den folgenden Jahren wurde dieser Kampf freilich Runde für Runde verloren. Die Hüttendörfer an der Autobahntrasse wurden trotz grüner Regierungsbeteiligung geräumt, im vergangenen Sommer stimmte der Parteirat der einstigen Alternativpartei (zur Finanzierung eines Nachtragshaushalts) der Privatisierung des Airports in der Landeshauptstadt zu - obwohl dies zweifellos zu einer Zunahme des Flugverkehrs führen wird.

Um so wichtiger wurde es für die Grünen, ihr ökologisches Profil am anhaltenden Widerstand gegen das umfangreichste Großprojekt im Lande zu schärfen: Stand doch der geplante Steinkohle-Tagebau Garzweiler II beispielhaft für alle Übel der Industriegesellschaft: 48 Quadratkilometer sollen 30 Kilometer südöstlich von Düsseldorf bis auf eine Tiefe von mehr als 200 Metern abgetragen werden, um 1,3 Millionen Tonnen Braunkohle zu fördern, die allein schon wegen ihres hohen Schwefelgehalts gar nicht mehr als Brennstoff in Frage kommen, meinen die Grünen. 7 600 Menschen aus elf kleinen Dörfern sollen umgesiedelt werden. Sollten die Schaufelradbagger die Arbeit aufnehmen, so befürchten die Grünen, würde das Grundwasser im nahen Naturpark Maas-Schwalm-Nette durch aus dem Abraum ausgeschwemmte Schwefelsäure versauert. Garzweiler II versinnbildlicht all das, gegen was die Grünen einst ausgezogen waren.

Doch auch die Sozialdemokraten maßen dem Tagebauprojekt von jeher essentielle Bedeutung zu. Die Partei, die in dem industriell geprägten Nordrhein-Westfalen auf die Stimmen der Kohlekumpel und der Industriearbeiterschaft setzt, argumentiert vor allem mit den 4 500 Arbeitsplätzen, die die Betreibergesellschaft Rheinbraun droht abzubauen, wenn das Aus für Garzweiler II kommen sollte. Braunkohle kann zwar nicht als sonderlich beschäftigungsintensive Energieform gelten - obwohl die BRD mehr als ein Viertel ihres Energiebedarfs aus dem fossilen Brennstoff deckt, arbeiten bundesweit nur 22 000 Menschen in der Steinkohlegewinnung -, doch für die SPD zählt das Symbolische, "Innovationen" hin oder her. Innenminister Wolfgang Clement rechnet den Arbeitsplatzeffekt schon mal auf "mehr als 50 000 Menschen" hoch. Ein übriges tut die Verbandelung der Rheinbraun mit der langjährigen Regierungspartei. Noch am selben Tag, an dem Ministerpräsident Johannes Rau 1995 sein rot-grünes Kabinett vorstellte, versicherte er Konzernoberen wie Kohlekumpels: "Das Projekt kommt." Clement imaginiert sich schon gerne mal als einer der "Neuerer" in der SPD an Gerhard Schröders Seite. Jeder einzelne Schritt im bergrechtlichen Genehmigungsverfahren, das in die Zuständigkeit seines Hauses fällt, gibt ihm dazu Gelegenheit. Den Grünen, die mit sämtlichen eigenen Projekten mehr oder weniger gescheitert sind, bleibt die Rolle des Bremsers.

Die versucht Umweltministerin Bärbel Höhn nach Kräften auszufüllen. Einen Trumpf gegen Clement hat sie dabei noch in der Hand: Dessen Innenministerium ist zwar fürs Bergrecht zuständig, die Kompetenz für den Gewässerschutz liegt jedoch in den Händen der Ministerin. So könnten die Grünen den Beschluß über den Tagebau wunderbar mit Hilfe des gewässerrechtlichen Gutachter- und Genehmigungsverfahrens bis zur Bundestagswahl verzögern - wären da nicht die SPD-Rechten um Clement, die dem kleineren Koalitionspartner das nicht gönnen wollen. Clement weiß um die Zwickmühle, in der die Grünen sich befinden: Sind sie der SPD zu Willen, verlieren sie das letzte bißchen Profil; riskieren sie dagegen die Konfrontation mit dem ungeliebten Partner, gefährden sie die rot-grüne Koalition, die auch ihre eigenen Parteioberen gerne als Nagelprobe für Bonn ansehen. Um all diese Fragen wird es auf dem Sonderparteitag der Landesgrünen am 17. Januar gehen.

Ganz offensichtlich eskaliert Clement, der es wie SPD-Fraktionschef Klaus Matthiesen besser mit der CDU kann als mit den industriefeindlichen Grünen, die Auseinandersetzung nun im Hinblick auf die Bundestagswahl. Zwar beugen sich die Parteirechten vorläufig noch dem Lafontaineschen Edikt, daß die Koalition an Rhein und Ruhr mindestens noch bis zur Bundestagswahl zu halten habe. Auf wie wackligen Füßen das Regierungsbündnis dennoch steht, kann man einem Brief entnehmen, den Ministerpräsident Johannes Rau zu Weihnachten allen SPD-Spitzenfunktionären im Lande zustellen ließ: "Ein hohes Maß an Sensibilität auf beiden Seiten" sei nun gefordert, schrieb Rau, und gemeint war damit zuallererst Clement. Mit dem Brief bekräftigte der Senior eine Ermahnung, die er einige Tage zuvor wohl schon einmal ausgesprochen hatte: Da hatte er Clement in sein Wuppertaler Haus geladen, um gemeinsam mit Generalsekretär Franz Müntefering den Provokateur an den Vorrang der Bundestagswahl zu erinnern. Müntefering, der nicht nur Landtagsabgeordneter in Düsseldorf und Vorsitzender des mitgliederstärksten SPD-Bezirks Westliches Westfalen ist, sondern außerdem auch oberster Wahlkampfmanager der SPD, können Clements Eskapaden überhaupt nicht ins Kalkül passen: In den Monaten vor der Bundestagswahl will er einerseits zwar Handlungswillen und -fähigkeit beweisen, doch andererseits auch Harmonie - in der Partei und zwischen den Koalitionspartnern in spe.

Clement scheint da ganz andere Pläne zu haben. Aus dem Treffen im Hause Rau kam er als derjenige, der den Ministerpräsidenten vielleicht schon in wenigen Wochen beerben will. Und als ihn gleich anschließend der Spiegel fragte: "Die Ankündigung von Neuwahlen in NRW könnte vielleicht frischen Wind in die gesamte Partei bringen: zwei Landtagswahlkämpfe, in Niedersachsen und in NRW, mit wirtschaftsfreundlichen SPD-Spitzenkandidaten", antwortete Clement: "Ein reizvoller Gedanke!" Und sollten die Grünen dieses Spielchen nicht mitmachen, dann könnte Düsseldorf als große Koalition unter Ministerpräsident Clement erst recht ein Beispiel für Bonn werden.