Wenn der »Schaden« behindert ist

Das Karlsruher Urteil bricht mit dem Tabu des ungewollten behinderten Kindes. Ein Weihnachtsgeschenk für den rassistischen Auslesewahn der sogenannten Bioethik

Das Bundesverfassungsgericht hat sich am 15. Dezember mit einer im Doppel verfügten Entscheidung zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und "fehlerhafter genetischer Beratung" zu Wort gemeldet. Die beiden unterschiedlichen Fälle waren aufgrund von Verfassungsbeschwerden zweier Ärzte gegen ihre zivilgerichtliche Verurteilung behandelt worden. Dabei wurden - in der Geschichte des Gerichtes erstmalig - unterschiedliche Auffassungen der beiden amtierenden Senate deutlich, denn die Entscheidung berührt nach Ansicht eines Teils der obersten Richter im Zusammenhang mit der Unterhaltspflicht das 1992 veränderte Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch (Paragraph 218). Dort sei festgelegt worden, daß die Unterhaltspflicht für ein Kind nicht als Schaden begriffen werden dürfe. Der spruchfassende Senat hat sich jedoch über diese Rechtsauffassung hinweggesetzt.

Was sich im Juristenjargon kompliziert liest, ist eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen haben kann und das bundesdeutsche Recht der heutigen Praxis, vor allem aber den Zielen humangenetischer Kontrolle ein Stück anpaßt: Erstmals wurde im Zusammenhang mit humangenetischer Beratung von den obersten Richtern, obgleich sie eine solche Auslegung ausdrücklich formell zurückweisen, über den Wert eines "geschädigten" im Vergleich zu einem gesunden Kind geurteilt. Die Verknüpfung der beiden Klagen erweckt den (gewollten?) Eindruck, daß es sich um ein neutrales Urteil bezüglich der Menschenwürde von behinderten Kindern handele. Doch den Karlsruher Richtern war anscheinend die Brisanz ihrer Entscheidung sehr deutlich. Immerhin sahen sie sich veranlaßt, in ihrer Begründung schon vorab zu beteuern, es handele sich nicht um ein "Unwerturteil".

Die beiden ungewollten Kinder, deren Existenz zur Grundlage des Richterspruches wurden, haben eine sehr unterschiedliche Genese. Beide sind bereits Mitte der achtziger Jahre geboren worden, und es handelt sich - Gerechtigkeit muß sein - um einen Jungen und ein Mädchen. Der Knabe wurde als viertes Kind eines Vaters gezeugt, der sich auf eigenen Wunsch hatte sterilisieren lassen. Diese offenbar mißlungene Sterilisation sei zum Zwecke der Familienplanung vorgenommen worden. Die planwidrige Geburt des Kindes habe dann eine Unterhaltsbelastung der Eltern ausgelöst, die diese wirtschaftlich motivierte Familienplanung durchkreuzte. Der Mutter des Kindes stehe deshalb Schmerzensgeld zu, darüber hinaus habe der Arzt für den Ersatz der Unterhaltsleistungen aufzukommen. Dieser Spruch ist fragwürdig in seiner familienpolitischen Motivation, gerät aber im Kontext des anderen zur Nebensache, weil er allein den nicht mehr vorhandenen Kinderwunsch zur Voraussetzung hat und sich damit nicht an den Eigenschaften des potentiellen oder geborenen Kindes orientiert, sondern an einem - zumindest angenommenen - Selbstbestimmungsrecht von Eltern über die Anzahl ihrer Kinder.

Auch im zweiten in Karlsruhe verhandelten Fall wurde ein Arzt zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Mutter und zum Unterhaltsersatz für das geborene Kind verurteilt. Als "Schaden", um es grob zu werten, gilt hier aber nicht das Kind an sich - sicherlich eine ethische Fragwürdigkeit, die aber so alt ist wie es ungewollte Kinder gibt -, sondern dessen Eigenschaften. Die Tochter, um die es hier geht, ist geistig und körperlich behindert. Bei den Eltern des "Schadens" hatte ein ausdrücklicher, jedoch gleichzeitig eingeschränkter Kinderwunsch bestanden. Sie hatten sich, da sie bereits ein behindertes Kind hatten, einer genetischen Beratung und Untersuchung unterzogen, um auszuschließen, ein weiteres "erbkrankes" Kind zu bekommen. Der nun endgültig verurteilte Arzt, Mitarbeiter einer klinischen Abteilung für Genetik an einem Universitätskrankenhaus, hatte ihnen diese Möglichkeit als "äußerst unwahrscheinlich" beschrieben, was sich nach der Geburt als nicht zutreffend erwies. In der Begründung des Bundesverfassungsgerichtes wird davon jedenfalls ausgegangen, da die zweite Tochter "mit den gleichen geistigen und körperlichen Behinderungen wie ihre Schwester geboren" wurde. Es führt aus, "daß der Wunsch der Eltern eines behinderten Kindes, die Zeugung eines weiteren Kindes vom Ergebnis einer genetischen Beratung abhängig zu machen, keinen moralischen Bedenken begegne, sondern in hohem Maße von elterlicher Verantwortung geprägt sei". Gleichzeitig weist es mit seinem Spruch die Klage des in niedrigeren Instanzen verurteilten Arztes zurück, die sich unter anderem auf Artikel eins (Menschenwürde, in diesem Falle des behinderten Kindes) berief.

Das Karlsruher Urteil vom 15. Dezember ist ohne die aktuellen gesellschaftlichen Werte-Verschiebungen in Richtung Kosten-Nutzen-Analysen im Bereich der Gesundheitspolitik und der sogenannten Bioethik-Debatte nicht denkbar. Es ist in sich durchaus schlüssig und paßt die Rechtslage den realen Gegebenheiten und bevölkerungspolitischen Zielsetzungen der humangenetischen Aussonderungsideologien an. Humangenetische Beratung dient explizit der Verhinderung bzw. Abtreibung behinderter Kinder bzw. Föten. Der Spruch des Bundesverfassungsgerichtes stellt einen weiteren Tabubruch auf juristisch höchster Ebene dar, der die in der Tat bereits lebensgefährliche Behindertenfeindlichkeit und deren immanente "Vermeidbarkeitsstrategien" mittels Strafandrohung manifestiert. Es hat der bereits herrschenden Normalität von "Lebenswert"-Debatten einen weiteren Rechtsraum verschafft.

Mit Sicherheit wird das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Folge haben, daß die im Gewerbe der Humangentik und Pränataldiagnose tätigen Medizinerinnen und Mediziner künftig eher zu sogenannten "Positivbefunden" - der Diagnose einer wahrscheinlichen Schädigung der Leibesfrucht - neigen werden. Das liegt, auch wenn solche Folgen von Berufshaftpflichtversicherungen abgedeckt sind, auf der Hand, denn Kunstfehler- bzw. Schadensersatzklagen sind unangenehm.

Der Berliner Professor Horst Spielmann will diese Befürchtungen und die öffentliche Aufregung der Behindertenverbände um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht teilen. Spielmann, der in der Ethik-Kommission der Berliner Ärztekammer für den Bereich Reproduktionsmedizin zuständig ist, gegenüber Jungle World: Bei einer Sterilisation oder einer humangenetischen Beratung sei die Sicherheit einer gelungenen Operation oder Voraussage niemals hundertprozentig gewährleistet. Und dies den Patienten bzw. Patientinnen mitzuteilen, gehöre zur ärztlichen Sorgfaltspflicht. Er sei sicher, daß diese in beiden Fällen, über die die Karlsruher Richter befanden, verletzt worden sei. Und dagegen müßten Patienten sich eben wehren können.

An den Plakatwänden hängen zur Zeit aufwendig und teilweise provokativ gestaltete Werbeträger der "Aktion Grundgesetz", eines Bündnisses von etwa hundert bundesweit arbeitenden Behindertenverbänden, das zu mehr Solidarität mit behinderten Menschen aufruft und dabei sehr legalistisch argumentiert. Das Karlsruher Urteil hat die Kampagne überholt, nicht überraschend, aber gründlich in seiner Deutlichkeit: Seit dem 15. Dezember ist die Menschenwürde auch juristisch antastbar, zumindest, wenn die Eltern eines behinderten "Schadens" eine Humangenetische Beratungsstelle besucht haben und dort zum Austragen einer Schwangerschaft ermutigt wurden.