Sprengstoff von der Polizei

Ankara: 2000 Studierende demonstrierten für die Freilassung ihrer Kommilitonen

Nicht durch Gesetzestexte wühlen sich Jura-Studenten in Ankara derzeit, sondern durch den Campus. Einen Tunnel graben sie. Notfalls, so kündigten sie an, wollen sie ihn um 150 Kilometer verlängern - bis zum Gefängnis von Cankiri, wo einige ihrer Kommilitonen aus der Koordination der Bewegung von 1995/96 inhaftiert sind. Vor rund einem Jahr waren sie nach Protestaktionen gegen die Studienbedingungen von einem Staatssicherheitsgericht zu insgesamt 96 Jahren Haft verurteilt worden.

Am 17. Dezember fand die Berufungsverhandlung gegen sie statt, am gleichen Tag demonstrierten deswegen rund 2000 Studenten auf dem zentralen Marktplatz in Ankara. Sie forderten die Freilassung der Inhaftierten und ein Ende der staatlichen Verfolgung von hochschulpolitisch aktiven Studenten. Am Ende der Kundgebung hieß es Knüppel frei für die Polizei, mehrere Studenten wurden festgenommen.

Die acht Angeklagten, darunter zwei Frauen, gehörten im Herbst 1995 und Frühjahr 1996 zu den Anführern von Studentenprotesten an der Universität Ankara. Eine breite Studentenbewegung hatte unter anderem gefordert, die Erhöhung der Studiengebühren - um 350 Prozent - zurückzunehmen. Gegen die Anwesenheit von uniformierter und ziviler Polizei auf dem Campus wehrten sie sich auch. Als die Universität diejenigen Studenten, die keine Studiengebühren entrichteten, im Februar 1996 exmatrikulierte, organisierten Studenten eine Protestaktion im türkischen Parlament, bei der sie ein Transparent mit der Losung "Für kostenlose Bildung!" während der Parlamentssitzung hochhielten und Flugblätter verteilten.

Im April 1996 beendete die Staatssicherheitspolizei in Ankara die Proteste durch eine Repressionswelle, sie verhaftete 31 Personen. Während der zweiwöchigen Polizeihaft wurden die Inhaftierten wiederholt durch Schläge und Aufhängen an den Handgelenken mißhandelt. Ein Kontakt zur Außenwelt oder ihren Anwälten war nicht erlaubt.

Nach einer Urgent-Action-Kampagne von amnesty international und dem türkischen Menschenrechtsverein IHD wurde die Mehrzahl der Inhaftierten freigelassen. Die verbleibenden acht Studenten wurden im Sommer 1996 vor einem Staatssicherheitsgericht in Ankara wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Gruppe" angeklagt. Ihnen wurde unter anderem der Besitz von Molotow-Cocktails vorgeworfen. Harte Urteile waren die Folge: Vier Studenten erhielten jeweils 18 Jahre und 20 Tage Haft, ein weiterer soll zwölfeinhalb Jahre absitzen. Die zwei Frauen aus der angeklagten Gruppe und ein weiterer Kommilitone wurden zu je drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Sie befinden sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß.

In der Berufungsverhandlung plädierten die Anwälte der acht Angeklagten erneut auf Freispruch. Die Anklage stütze sich auf gefälschte Beweise. So seien bei den Hausdurchsuchungen nach der Festnahme im April 1996 keine Hinweise auf Molotow-Cocktails oder andere Waffen gefunden worden. Zwei Wochen später durchsuchten Kräfte der Sicherheitspolizei die Wohnungen erneut und präsentierten anschließend eine Kiste voller Brandsätze sowie Sprengstoff. Eine Anwohnerin hatte kurz vor der Razzia beobachtet, wie mehrere ihr unbekannte Männer mit einer Kiste beladen das Haus der zu diesem Zeitpunkt schon inhaftierten Studenten betreten hatten, und sich daraufhin bei der Menschenrechtsvereinigung in Ankara gemeldet.

Der Berliner Rechtsanwalt Dieter Hummel, der als Prozeßbeobachter für die Vereinigung demokratischer JuristInnen an der Berufungsverhandlung am 17. Dezember teilnahm, bezeichnete die Anklage nach Gesprächen mit den Verteidigern und der Menschenrechtsvereinigung IHD als "konstruiert und politisch motiviert". Gegenüber Jungle World erklärte Hummel, die Staatssicherheitspolizei sei offenbar gezielt gegen die acht StudentInnen vorgegangen, "weil sie in ihnen die führenden Köpfe der Studentenbewegung an der Universität in Ankara vermutet hat". Auch der AstA der Technischen Universität Berlin hatte Prozeßbeobachter nach Ankara entstandt und bundesdeutsche Studenten zur Solidarität mit den inhaftierten türkischen Kommilitonen aufgefordert.

Am 18. März 1998 wird das Urteil des Berufungsgerichts erwartet. Aber vielleicht ist ja vorher der Tunnel fertig.