Ghostbusters!

Vom halluzinierten Klassenkämpfer zum Geisterjäger des Antikommunismus. Stéphane Courtois, Herausgeber des "Schwarzbuch", als Archetyp des europäischen Linken, der immer zu spät kommt.

Wer heute als antikommunistischer Welterlöser sein Glück versucht, rennt sperrangelweit geöffnete Türen ein und findet sich an Ort und Stelle unversehens mit zu allem bereiten Konkurrenten konfrontiert. Der "generalisierte antitotalitäre Impuls", dessen Mangel Ulrike Ackermann den Linken ankreiden zu müssen glaubt (taz, 1. Dezember 1997), ist heutzutage nicht gerade dernier cri der intellektuellen Modebranche.

Als Stéphane Courtois, Herausgeber des "Schwarzbuch", glaubte, mit seiner Forderung nach einem "Nürnberger Tribunal des Kommunismus" einen Überraschungscoup gelandet zu haben, wurde er postwendend mit der Information desillusioniert, Front-National-Chef Jean-Marie Le Pen habe dieses Terrain schon vor längerem für sich reklamiert. Um sich der Gefahr eines solchen Malheurs erst gar nicht auszusetzen, entsagte Courtois' deutscher Gesinnungsfreund Daniel Cohn-Bendit daraufhin der Versuchung, stets zu den ersten in Sachen Tabubruch zu gehören.

Auf die Feststellung, sein Antikommunismus erinnere an den des Geschichtsrevisionisten Ernst Nolte, entgegnete er in einem Tagesspiegel-Interview (29. November 1997) ebenso generös wie abgeklärt: "Wenn Nolte sagt, hier geht der Mond auf, und da geht er unter, hat der Mann ja auch recht." Die taktisch klug gemeinte Gelassenheit zahlte sich nicht aus. Nur eine Woche später sollte wieder ein anderer - älterer - das Rennen machen. Franz Schönhuber verwahrte sich auf einer gemeinsam mit Le Pen in München veranstalteten Pressekonferenz dagegen, "die Geschichte einseitig zu interpretieren und Auschwitz zu instrumentalisieren". Allein der Gerechtigkeit halber forderte der frühere Republikaner-Vorsitzende "ein Gesetz gegen die Verharmlosung dessen, was die Kommunisten in dieser Welt getan haben".

Das Zuspätkommen scheint nicht nur ein bezeichnendes Merkmal der Autoren des "Schwarzbuch" und ihrer geschäftigen Trittbrettfahrer zu sein - schließlich gehört das Marktsegment des fundamentalistischen Antikommunismus zu den inzwischen am meisten ausgeplünderten Claims der ideologischen Goldgräberzunft -, es ist wohl auch für den europäischen Post-68er-Linken generell signifikant. Als Ritter von der traurigen Gestalt verwandelte er sich zunächst in den halluzinierten Archetypus des Klassenkämpfers, dem im Klassenk(r)ampf zu wenig Köpfe rollten und dem die "Diktatur des Proletariats" zu wenig diktatorisch war. Ähnlich Don Quichotte, der zu einer Zeit seine tragikomische Heldenexistenz entwarf, als die Epoche der Ritter zwar schon vergangen, doch in der Literatur noch omnipräsent war, formulierte auch der Post-68er-Linksradikale Texte und Regieanweisungen seiner Inszenierungen vermittels einer quichottischen Ineinssetzung von äußerst lebendigen Polit-Mythen und einer diesen bereits entwachsenen gesellschaftlichen Realität.

Das klassenkämpferische Proletariersubjekt war um 1968 längst in der staatsbürgerlich vergesellschafteten Geldmonade aufgegangen. Ihm nachfolgende Mythen ökologischer und zivilgesellschaftlicher Provenienz konnten sich nur deshalb einer gewissen Scheinblüte erfreuen, weil sie ebenso wie die Idylle einer naturwüchsigen Proletariergemeinschaft, dem Geborgenheitsbedürfnis von Leuten entgegenkamen, die sich irgendwie zu weit aus dem Fenster gehängt zu haben schienen. Das dabei empfundene Schwindelgefühl - Böswillige sprachen auch vom "intellektuellen Selbsthaß" - bewirkte quasi reflexartig eine Vermeidungshaltung, bei der die Individuen zwar wie alle anderen auch mehr schlecht als recht durch den Nebel unverstandener gesellschaftlicher Existenz schlurfen, während ihr Geist in den lichten Sphären einer heroischen Vergangenheit weilt.

Dieses bemerkenswerte Phänomen eines "cultural lack" zeichnet auch noch die antitotalitären Geisterjäger von heute aus. 1997 applaudiert der Spiegel Stéphane Courtois zu seiner gelungenen Selbstinszenierung: "Mit seinem langen Bart und seinen mächtigen Gesten wirkt Courtois selber wie ein russischer Dissident der späten Breschnew-Jahre." Courtois war von 1968 bis 1973 Mitglied der militanten maoistischen Gruppe "Vive la Révolution".

Ließ deren von Courtois mitverfaßte Polit-Prosa oft an mißlungene Parodien der Dostojewskischen "Dämonen" denken, so scheint sich der heutige solitaire démocratique von den Inspirationen des französischen Grand-Guignol-Theaters der ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, einem Vorläufer der Splatter-Movies, leiten zu lassen. In dem ab Ende der zwanziger Jahre zur Aufführung gekommenen Grand-Guignol-Einakter "Sabotage" wird einem Gewerkschafter seine Klassenkampf-Obsession zum familiären Verhängnis. Während er, statt zu arbeiten, auf Versammlungen für den Generalstreik agitiert, erleidet sein an Diphterie erkranktes Kind einen Erstickungsanfall. Der von der Mutter herbeigerufene Arzt versucht mit einer Notoperation, das Kind zu retten. Plötzlich fällt der Strom aus, der Generalstreik hat begonnen; das Kind stirbt. Als der Gewerkschafter triumphierend nach Hause kommt, wird er von seiner wahnsinnig werdenden Frau mit dem Worten "Mörder, du hast deinen Sohn getötet" empfangen. Courtois muß gerade diese Schlußszene beeindruckt haben.

In einem Interview mit dem konservativen Figaro (13. November 1997) macht er die französische KP für das Entgleisen eines Expreßzuges im Jahre 1947, bei dem 16 Menschen starben, verantwortlich. Die KP trägt die Verantwortung, weil sie zum Streik aufgerufen hat und nicht etwa die staatliche Eisenbahn, weil sie trotz des Streiks Züge fahren ließ. Wie im Grand-Guignol wird aus der Verantwortung schnell eine direkte Täterschaft. Courtois im Interview mit der liberalen Zeit eine Woche später: "Während des großen Streiks von 1947 ließ die PCF den Expreßzug von Paris nach Lille entgleisen, was sechzehn Menschen das Leben kostete. Frankreichs demokratisches System verhinderte, daß die PCF heute mehr Blut an den Händen hat."

Franz Kafka äußert in einem nachgelassenen Fragment die Ansicht, Don Quichotte habe ausschließlich in der projektiven Phantasie seines Knappen Sancho Pansa gelebt. Ihm, so Kafka, "gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinem Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten." Vielleicht sind die quichottischen Post-68er die zur Nützlichkeit gebändigten Teufel des staatsbürgerlichen Unbewußten. Denn auf verquere Weise sprechen die bislang vorliegenden Elogen auf das "Schwarzbuch" immer auch von den Leichen im eigenen Keller. Zwar wird die Topographie des früheren Feind-Territoriums akribisch vermessen: "Von Rußland bis Vietnam, von der ehemaligen DDR über Äthiopien und Kambodscha bis China, Cuba, Nordkorea wird eine Bilanz erstellt. Der Befund ist niederschmetternd."

Doch alsbald ist man wieder zu Hause: "In Lateinamerika sind Castro und den Sandinisten rund 150 000 Bürger zum Opfer gefallen. Für Afrika verbuchen die Autoren in Angola, Mo ç ambique, Äthiopien 1,7 Millionen Tote." (FAZ, 13. November 1997) Hier werden Opferbilanzen erstellt, in die all jene eingeschlossen sind, die aufgrund der in diesen Ländern stattgefundenen westlich-demokratischen Miltärinterventionen, Bürgerkriege und wirtschaftlichen wie militärischen Blockaden starben. Schuld an ihrem Tod sind selbstverständlich nicht die Urheber dieser Maßnahmen, sie sind im eigentlichen Sinne auch gar nicht die Urheber. Es war die Vermessenheit eines Aufbegehrens gegen die natürliche Ordnung des Kapitals, die Ordnung von frühem Tod an Hunger und anderswo leicht kurierbaren Krankheiten, die Vermessenheit, ein Stück vom Kuchen des Reichtums abzubekommen, ohne die Alternative "Bezahl oder stirb", die all diese Menschen zu Tode brachte.

Diese Vermessenheit hat in der bürgerlichen Gesellschaft seit langem einen Namen: Kommunismus. Gegen ihn einzuschreiten, auch mit Massenliquidierungen wie das chilenische Militär in den siebziger Jahren - auf sein demokratisches Konto gehen mindestens 30 000 Tote -, ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern geradezu eine staatsbürgerliche Pflicht. Die Staatsanwaltschaft am "Sondergericht für Terrorismus und Finanzvergehen" im demokratischen Spanien hat dies Mitte Dezember nachdrücklich bestätigt. Eine Klage von Angehörigen in Chile ermordeter und verschwundener Spanier wurde mit dem Verweis auf die rechtsstaatlich gebotene Notwendigkeit der Militärmassaker abgewiesen.

Für die demokratischen Juristen handelte es sich um "eine vorübergehende Suspendierung der verfassungsmäßigen Ordnung, (...) um die Unzulänglichkeiten dieser Ordnung zu beheben und den Frieden zu wahren." (laut taz, 12.Dezember 1997) Demnach gereicht es dem General Pinochet juristisch nicht zum Nachteil, daß er 1973 das "Schwarzbuch des Kommunismus" noch nicht kennen konnte.

Schließlich handelten er und auch seine Kameraden anderswo schon immer in der ehrlichen Überzeugung, ausschließlich Schlimmeres zu verhindern.

Die "Schwarzbuch"-Autoren bringen also nicht Neues in die gleichförmige Welt einer natürlichen Ordnung von verdientem Reichtum und ebenso verdienter Armut. Das Nette an ihnen aber ist, daß sie selbst einmal zu den widernatürlich Verblendeten gehörten; selbst wenn dies solange zurückliegen mag, daß es heute kaum noch wahr erscheint, hat dieser Umstand doch etwas Beruhigendes. Das bürgerliche Publikum kann die historiographischen Abenteuer seiner Don Quichottes auf eine Weise goutieren wie Kafkas Sancho Pansa. Er, "ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende".

Die Gleichmütigkeit der freien Staats- und Marktsubjekte beinhaltet auch die Muße zu Debatte und Interpretation. Dazu gehört das freimütige Einräumen mancher Übertreibung, Fälschung und Hochstapelei im "Schwarzbuch"; bei acht- bis neunstelligen Opferzahlen kommt es schließlich auf einige Millionen weniger nicht an. Dazu gehört auch die demokratische Auseinandersetzung um den Sinn des Ganzen. In ihr bleiben allerdings Gleichmut und gelassene Überzeugung, die eigenen Teufel gebannt zu haben, schon nach kurzer Zeit auf der Strecke.

Apokalyptische Stimmungen und

dunkle Visionen setzen sich durch, das Publikum wähnt sich in einer von barbarischen Wilden umlagerten Festung. Als befähigter Conférencier solcher Séancen macht der einst kluge Jan Philipp Reemtsma von sich reden. Auf einer wohl auch aus Anlaß des "Schwarzbuch"-Erscheinens vom Reemtsmaschen "Institut für Sozialforschung" mitveranstalteten Tagung - "Genozid in der modernen Geschichte" - behandelte er kürzlich laut dem anwesenden Protokollanten des Tagesspiegel (9. Dezember 1997) "den Begriff einer Rhetorik des 'Noch', derer sich namentlich die Täter oder Anstifter zum Genozid bedienen. In dieser 'Rhetorik' ... bilde sich jeweils ein moralisch geprägtes Selbstbild ab. Es finde sich innerhalb des kommunistischen Systems verkapselt in einer 'Rhetorik der eschatologischen Säuberung'. Diesseits einer am politischen Horizont aufscheinenden Zeitschwelle erscheint 'noch' alles erlaubt."

Was Reemtsma hier "in betont unaufgeregter Diktion" vortrug, ist nicht nur der Exorzismus des vom Heiligen zum Teufel gewandelten Ernst Bloch samt seiner Theologie des "Noch nicht" und des "Vorscheins", wenngleich ihm dies bei manchen der Anwesenden, die sich noch kurz vor 1989 durch Bloch-Texte hindurchquälen mußten, einen gewaltigen Sympathiebonus eingebracht haben dürfte. Auch handelt es sich nicht nur um den gleichermaßen sympathieträchtigen Appell zur intellektuellen Selbstbeschränkung eines ehedem Ambitionierten.

Wenn jenseits des bestehenden "Noch" Tod und Vernichtung, wie im "Schwarzbuch" bilanziert, auf die Unschuldigen warten, wenn demzufolge die Formulierung des "noch" bestehenden Zustandes als eines zu Überwindenden zwangsläufig in den Generalverdacht einer "Rhetorik der eschatologischen Säuberung" gerät, dann ist das Plädoyer des engagierten Intellektuellen auch eins für das permanente demokratische Notstandsregime, all inclusive. Das heißt, auch für die eigene Selbstabschaffung.

Eine erweiterte Fassung erscheint Anfang Februar 1998 in Bahamas, Nr. 25.