Entmarxte Avantgarde

Serge Guilbaut dokumentiert, wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat

Vor der Berliner Zentrale der Grundkreditbank steht ein kolossaler bronzener Briefbeschwerer von Wolfgang Mattheuer: "Der Jahrhundertschritt". Eine, auf den ersten Blick, kopflose Gestalt hebt den rechten Arm zum deutschen Gruß und ballt die Linke zur Rotfrontfaust. Kommunismus und Faschismus waren die Plagen der Moderne, soll uns diese Allegorie des Totalitarismus wohl sagen, und beide waren in ihrem Wesen identisch; einen Rest von interpretatorischer Freiheit gewährt allein der rätselhafte Umstand, daß die kommunistische Hälfte in einem Militärstiefel marschiert, während die faschistische barfuß laufen muß.

Diese Skulptur verdeutlicht, was uns erspart blieb, als nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanische Kunst den Weltmarkt eroberte und zwar auch liberale Gesinnung propagierte, aber auf vordergründig politische Inhalte verzichtete und damit auf den Versuch, den sozialistischen Realismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Um künstlerisch und politisch erfolgreich zu sein, behauptet Serge Guilbaut in seinem 1983 erschienenen Buch, das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, mußten die Maler der Avantgarde unpolitisch werden.

Seinen Welterfolg verdanke der Abstrakte Expressionismus dem Niedergang der amerikanischen Linken, dem Kalten Krieg, dem Sieg Trumans bei den Präsidentschaftswahlen von 1948 und der darauf folgenden Durchsetzung eines nicht sonderlich liberalen kämpferischen Liberalismus. Daß die USA nach dem Krieg nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch kulturell dominierten, ist nicht verwunderlich; das alte europäische Vorurteil, die Amerikaner seien nur zu mittelmäßiger künstlerischer Massenware fähig, konnten die avantgardistischen Spitzenprodukte der Jackson Pollock, Willem de Kooning, Robert Motherwell und Barnett Newman seit dem Ende der vierziger Jahre überzeugend widerlegen.

Viele der Gründerväter des Abstrakten Expressionismus hatten sich um 1935 im Rahmen der "Works Progress Administration", eines Arbeitsbeschaffungsprogramms für Künstler, der antifaschistischen Volksfront zur Rettung der bürgerlichen Kultur angeschlossen. Sie trugen "den Stempel der marxistischen Tradition", schreibt Guilbaut, von ihrem politischen Engagement blieb späterhin aber nicht viel mehr als der kommunikative Anspruch und die Neigung zum großen Format. Das Staffeleibild, ein "preziöses Objekt", das häufig über dem Kaminsims endet, lehnten sie als allzu leicht konsumierbare Ware ab und bevorzugten "die kommunikative Kraft des Freskos" in der Gestalt großer Leinwände. Derart, schrieb ein Kritiker, akzeptierten sie die "physische Realität der Wand". Und das sollte man eigentlich immer tun.

Guilbaut dokumentiert die "Ent-Marxisierung der Intelligenz", die in den einschlägigen Zeitschriften wie Partisan Review und The Nation unterm Druck des "Un-American Activities Committee" betrieben wurde. Von Uncle Joe enttäuscht, fanden sich die linken Künstler und Intellektuellen schließlich in der Mitte der Gesellschaft wieder.

Auf einem Symposium über "die Zukunft des Sozialismus" wurde 1947 die Abkehr vom Marxismus besiegelt. Dwight Macdonald, den Guilbaut "einen gestandenen Radikalen" nennt, verlangte es nun nach einem anderen System, das "von den eigenen persönlichen Interessen und Gefühlen ausgeht und sich vom Individuum zur Gesellschaft vorarbeitet und nicht umgekehrt"; seine "historische Dynamik" sollte "vor allem aus absoluten und nicht-historischen Werten wie Wahrheit und Gerechtigkeit und nicht aus dem Lauf der Geschichte" entstehen.

Nach 1948 versammelten sich die amerikanischen Liberalen hinter Truman und seinem Programm des "Fair Deal", das den Marshall-Plan durch ein Militärbündnis zu ergänzen und den Kommunismus weltweit mit allen, also auch kulturellen Mitteln zu bekämpfen versprach. Die passende Ideologie lieferte Arthur Schlesinger in seinem Buch "The Vital Center": Dem seltsamerweise "angstfreien totalitären Menschen" stellte er das Bild einer prekären, von Zweifeln angefochtenen, aber nie entmutigten freien individuellen Existenz entgegen. Selbst die Angst vor der Atombombe erschien dem dezidiert antikommunistischen Liberalismus noch als notwendiges Übel der offenen Gesellschaft, ohne das Freiheit nicht zu haben sei. Im Angesicht der globalen Bedrohung amerikanischer Werte sei das schöpferische, willensstarke Individuum gefordert: "Freiheit - ein kämpferischer Glaube".

Und wer verstand sich auf Individualismus besser als der avantgardistische Künstler? Die abstrakten Expressionisten hatten nationalen Stil und heimische Thematiken überwunden und waren international geworden, nun bekannten sie sich zu universalistischen Werten. Und nach der Abwendung vom Marxismus praktizierten sie eine radikale Subjektivität. Zwar gefielen sie sich weiterhin in der Rolle antiautoritärer Sozialrebellen, wurden deshalb aber um so herzlicher von der Regierung umarmt. Solange sie keine explizite Kritik am American Way of Life übten, die immer als kommunistisch inspiriert verdächtigt wurde, und auf der Trennung von Kunst und Politik beharrten, genossen sie alle Freiheiten. Der Rebell im Dienst des Bestehenden war schon damals keine Neuigkeit.

Selbst eine technisch avancierte Darstellung Thomas Jeffersons, wie er die Declaration of Independence unterschreibt, hätte schwerlich weltweiten Ruhm errungen. Vor dem Kitsch rettete die Abstraktion und vor der Propaganda der subjektive Ausdruck. Die Bedrohungen der Moderne konnten nicht länger mit den künstlerischen Mitteln der Vorkriegszeit artikuliert werden. In den Worten Dwight Macdonalds: Das Unakzeptable zu beschreiben, hieße angesichts der Atombombe, es zu akzeptieren. Als hervorragende Inkarnationen individueller Willens- und Schöpferkraft gewannen die Avantgardemaler ein Image, das sich bald als politisch verwertbar und gut verkäuflich erweisen sollte.

Schon 1947 wurden Zeitungsannoncen von Immobilienfirmen mit Jackson Pollocks Zeichnungen geschmückt, im Rahmen mehrerer "Buy American Art Weeks" wurde avantgardistische Malerei in Kaufhäusern angeboten, und die Fotomodelle aller führenden Modejournale posierten vor abstrakt-expressionistischen Leinwänden. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ließ es die CIA sich nicht nehmen, einschlägige Ausstellungen in Europa zu finanzieren.

"Die Avantgarde konnte sich durchsetzen, weil ihre Arbeiten und ihr ideologischer Hintergrund, wie er sich in ihren Schriften und Bildern artikulierte, ziemlich genau mit der Ideologie übereinstimmten, die nach den Präsidentschaftswahlen von 1948 das politische Leben in den USA beherrschte." Guilbaut hat zweifellos, dem eigenen Anspruch gemäß, "eine Grundlage für die Neuinterpretation der Arbeiten der Avantgarde aus den Jahren 1947 und 1948" geschaffen. Außerdem liest sich sein Buch, dank der vielen Zitate, als interessantes Quellenwerk zur Geschichte der amerikanischen Linken während der Roosevelt- und Truman-ära.

Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg. Verlag der Kunst. Dresden 1997, 264 S., DM 58