Spielbein der Strategen

Die Westeuropäische Union soll zum militärischen Arm der Europäischen Union ausgebaut werden - wieder mal

Die Politiker der Koalition zieht es in letzter Zeit mit ihren Konferenzen und Tagungen häufiger nach Ostdeutschland. So lud Verteidigungsminister Volker Rühe seine Kollegen aus Frankreich und Polen zum Pläneschmieden nach Weimar. Und Mitte November wurden gar 54 Außen- und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU) von ihren deutschen Kollegen Kinkel und Rühe nach Erfurt geladen. Gastgeber Kinkel erklärte bei seiner Begrüßung zwar, daß der Tagungsort auf dem Gebiet des früheren Ostblocks die Fortschritte bei der Schaffung einer kooperativen Sicherheitsarchitektur in Europa widerspiegele, doch es darf vermutet werden, daß mit diesem Hauch von Weltpolitik gleichzeitig schon etwas Vorwahlkampf betrieben werden sollte. Schließlich einigten sich die Strategen des europäischen Verteidigungsbündnisses auch auf eine "Erfurter Erklärung", die ein gleichnamiges, wenig regierungsfreundliches Papier glatt in Vergessenheit geraten lassen könnte.

Doch wer, so darf beruhigt werden, interessiert sich schon für ein nahezu unbekanntes, ehemals rein westeuropäisches Militärbündnis. Dabei könnte das 1948 von Frankreich, Großbritannien und den Benelux-Staaten ursprünglich gegen ein wieder erstarkendes Deutschland gegründete Unternehmen künftig durchaus interessant, sprich brisant werden. In der am 18. November verabschiedeten "Erfurter Erklärung" bekannte sich der WEU-Ministerrat zur "Schaffung eines gemeinsamen europäischen Sicherheitsraumes", in dem es "keine Trennlinien gibt und alle Staaten Sicherheitspartner" sind. Bis auf Rußland, das wie in der Nato draußen bleibt, weil dessen Potentiale - so wurde es schon 1992 in den Verteidigungspolitischen Richtlinien festgeschrieben - die "WEU strategisch aus der Balance geraten lassen" würden.

Die Minister bekannten sich in ihrem 18seitigen Papier dazu, die WEU als militärisches Scharnier zwischen EU und Nato auszubauen. Ziel ist es, die Westeuropäische Union zu einem effektiven Instrument des europäischen Krisenmanagements zu machen, das im Auftrag der Europäischen Union handelt und sich dabei der Mittel und Möglichkeiten der Nato bedienen kann.

Dafür hatte die Allianz auf ihrem Madrider Gipfel eigens das Konzept der flexibel zusammenstellbaren Alliierten Streitkräftekommandos entworfen. Diese Combined Joint Task Forces der Nato, die je nach Krisenfall aus verschiedenen Teilstreitkräften und nationalen Kontingenten bestehen können, würden in einem solchen Fall auf Antrag der WEU kurzerhand einem WEU-Stab oder -Kommandeur unterstellt. Dem Körper wird somit lediglich ein anderer Kopf aufgesetzt. Viele Militärs und Diplomaten vertreten ihre Länder in Brüssel ohnehin schon gleichzeitig in Nato und WEU. Warum der Aufwand? Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Die WEU soll als militärischer Arm der Europäischen Union künftig auch Militäraktionen ohne die dominierenden US-Amerikaner und außerhalb der Nato-Vertragsgrenzen ermöglichen. Proklamiert wurde das schon häufig. In seinen Verteidigungspolitischen Richtlinien betonte Rühe bereits 1992, daß die WEU den Europäern in Krisensituationen Handlungsfähigkeit garantiert, in denen "die Nato nicht in der Lage oder nicht willens ist, einzugreifen".

Doch damit ist die WEU, die in den Jahren des Kalten Krieges neben der Nato keinerlei Rolle spielte und erst Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre von den Franzosen wiederbelebt wurde, auch heute eher ein Militärbündnis in Reserve. Weniger der vielbeschworene europäische Pfeiler in der Nato als ein Spielbein der Europapolitiker Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens. Die Interessen aber gehen in zu verschiedene Richtungen.

So hatte der französische Außenminister Hubert Vedrine in Erfurt das schleppende Tempo des Ausbaus der WEU zum europäischen Verteidigungsinstrument heftig kritisiert. Er konstatierte, daß die WEU-Aktionen bis heute eher "bescheiden" gewesen seien. In diesem Zusammenhang verwies er auf den gescheiterten Versuch der WEU, Truppen für die Absicherung von Hilfslieferungen nach Albanien zu entsenden. Gereicht hätte der Wille nur für eine Mission von 35 beratenden Polizeibeamten aus 16 Nationen. Diese Ungeduld erklärt sich leicht mit dem Ziel der Franzosen, europäische Politik nicht mehr von Washington aus diktieren zu lassen. Selbst WEU-Generalsekretär José Cutileiro moserte, daß die Glaubwürdigkeit der WEU am Ende von der Fähigkeit abhänge, eine "militärische Operation zu organisieren und durchzuführen". Die Mission in Albanien sei nicht genau die Art Einsatz, auf die man sich nun schon seit Jahren vorbereite.

Rühe und Kinkel wiederum stellen sich die WEU zwar als besagtes "Scharnier" zwischen EU und Nato vor, doch zu eigenständige Missionen lehnt Bonn ab. Letztlich soll die WEU aus deutscher Sicht voll in die Europäische Union integriert werden. Der Ausbau der WEU, so Kinkel, sei eben noch ein "längerer Prozeß". Wichtig sei die WEU derzeit vor allem für die Anbindung der osteuropäischen Staaten. Der Außenminister warnte sogar davor, die Bedeutung der WEU allein an militärischen Einsätzen zu messen. Wenn man vom SFOR-Einsatz in Bosnien absehe, habe ja auch die Nato nicht mehr vorzuweisen. Größter Bremser ist und bleibt allerdings Großbritannien, das die Nato auf keinen Fall als Hauptverteidigungsbündnis in Frage gestellt wissen will.

Wie groß die Widersprüche unter der Decke der WEU sind, zeigte sich auch in einer scheinbaren Unhöflichkeit der WEU-Mächtigen. So durfte der Spanier Lluis Maria de Puig, Mitbegründer der Parlamentarischen Versammlung der WEU, trotz ausdrücklichen Wunsches vor dem Ministerrat nicht sprechen. De Puig hatte sich zuvor für einen großen WEU-Gipfel zum 50. Gründungsjubiläum im nächsten Jahr stark gemacht. Auch bei den Deutschen war er damit gescheitert, weil ein solches Treffen Erwartungen wecken könnte, während ein politischer Konsens immer noch nicht hergestellt ist.

Und so tastet sich der unförmige Koloß WEU mit Blick auf die Empfindlichkeiten der zehn Vollmitglieder Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien, der drei "assoziierten Mitglieder", fünf "Beobachter" und zehn "assoziierten Parter" in Osteuropa mit kleinen Schritten voran. Ab 1999 wird die Präsidentschaft von WEU und EU in die Hände jeweils eines Staates gelegt. Das Polizeikontingent in Albanien könnte auf 90 Mann aufgestockt werden. Zu den wichtigeren Beschlüssen gehört allerdings die Einsetzung eines Militärausschusses der WEU-Generalstabschefs bis 1998. Er soll im Krisenfall für eine schnellere und kompetentere Beratung der Politiker sorgen.

Zackiger geht es zu, wenn Geld im Spiel ist. Als vor Beginn des WEU-Ministerrates die 13 Nato-Staaten der Westeuropäischen Rüstungsgruppe (WEAG) Möglichkeiten der Standardisierung der gemeinsamen Ausrüstung diskutierten, war man sich schneller einig. Die nationalen Rüstungsdirektoren wurden beauftragt, innerhalb von zwölf Monaten einen Plan zur Gründung einer Europäischen Rüstungsagentur vorzulegen, die die Entwicklung und Produktion von Waffen für die WEU-Staaten steuern soll. Schließlich geht es hier darum, die US-Amerikaner im Wettlauf um die Ausrüstung der Staaten Osteuropas auszustechen. So betonte Rühe, daß sich die neuen Partner auch bei den Waffenkäufen der europäischen Dimension ihrer Mitgliedschaft in der WEU bewußt sein müßten. Eine kleine Erpressung unter Freunden.