»Ich war dabei«

Vor dem Kölner Landgericht beginnt einer der letzten Prozesse gegen einen Nazi-Hilfspolizisten

Ein schönes Fest hätte es werden können. Schließlich wird der Mensch nur einmal 75 Jahre alt. Die Familie hätte gemeinsam gefeiert und die Enkelkinder wären auch dabei gewesen. Ein Verantwortlicher des Pharmakonzerns, in dessen Windschatten man in Leverkusen nicht nur lebt, sondern in dessen Lagerhallen man sich auch Jahrzehnte lang abgerackert hat, hätte einen Präsentkorb überrreicht und eine kleine Ansprache gehalten.

Das Fest am 25. November mußte ausfallen. Statt dessen wird Ernst H. zwei Tage später nach Köln fahren, um dort auf der Anklagebank des Landgerichts Platz zu nehmen. Er muß sich vor der 4. Großen Strafkammer wegen Beihilfe zum Mord verantworten - begangen im Sommer 1942 an 40 bis 65 jüdischen Kindern, Frauen und Männern.

Ernst H., der am vergangenen Dienstag eigentlich Geburtstag feiern wollte, wurde von der Vergangenheit eingeholt. 55 Jahre, nachdem uniformierte deutsche Truppen den Tod in die kleine ukrainische Ortschaft Israilovka gebracht hatten. Auf Lastwagen kamen sie in den frühen Morgenstunden eines Julitages, deutsche Polizeieinheiten der "Gendarmerie Ustinova" und Mitglieder einer angegliederten Hilfspolizeitruppe, in Zivilkleidung und mit einer gelben Armbinde gekennzeichnet unter ihnen Ernst H. Während die Hilfspolizisten den Weiler mit dem Gewehr im Anschlag hermetisch abriegelten, begannen die Gendarmen, Israilovka zu durchkämmen. Haus für Haus trieben sie die jüdische Einwohner zusammen.

Drei bis vier Dutzend jüdische Erwachsene wurden von den Gendarmen aus der Ortschaft geführt. Fern von möglichen Augenzeugen mußten sie sich zu vier oder fünf Personen vor einem bereits ausgehobenen Graben aufstellen. Von Genickschüssen getroffen, fielen die Leichen übereinander. Später wurden die noch im Ort verbliebenen 20 jüdischen Kinder auf einem Pferdewagen abgeholt und ebenfalls ermordet.

Die Juden von Israilovka wurden "ausgerottet" - ebenso wie rund 500 jüdische Familien aus dem nahen Yarishev, wie 300 Menschen aus der Ortschaft Zybuilewo. "Zwei Gräber nebeneinander. Darin liegen eineinhalbtausend Menschen. Erwachsene, Alte, Kinder." So beschreibt in Ilja Ehrenburgs "Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden" Unterleutnant lfravzov das Schicksal der jüdischen Einwohner von Jaltushkov. Zu Hunderten zählen die Orte, in denen die Nazis auf dieseWeise mordeten.

Die Spur der Mörder von Israilovka und ihrer Helfer verliert sich für mehr als fünfzig Jahre. Am 18. Mai 1995 klingelt es an der Haustür von Ernst H. in einem Leverkusener Vorort. Die vor der Tür stehenden Polizisten präsentieren dem Rentner einen Haftbefehl wegen Beihilfe zum Mord. Ernst H. fällt aus allen Wolken. In seinem Verständnis hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen, nichts Unrechtes getan. Die Wohnung wird durchsucht. Der Vater zweier Töchter wird abgeführt, nach einem Verhör jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Seine Ausweise werden eingezogen. Seitdem muß er sich der Rentner jede Woche bei der Polizei melden.

Ernst H. wurde in Westpreußen geboren, als Jugendlicher kam er mit seinen Eltern in die Ukraine. Als landwirtschaftlicher Helfer arbeitete er in einer Kolchose, bis er von den deutschen Truppen als Hilfspolizist rekrutiert wurde. Daß er zu der Hilfspolizeitruppe gehörte, die im Sommer 1942 den ukrainischen Weilers absperrte, streitet er nicht ab. "Ich war dabei Ö", hebt er an. Er spricht den Satz nicht zu Ende. Mit zittriger Stimme murmelt er: "Das war eine Schweinerei damals." Aber Schuld, beteuert der frühere Pferdeknecht, der bei Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft geriet, Schuld habe er keine. "Ich habe nicht geschossen", sagt er, und: "Wir hatten zu gehorchen", "Auf mich hätte doch keiner gehört". Verbittert klagt H.: "Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen."

Auch die Staatsanwälte glauben nicht, daß den Dortmunder Fahndern der Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen mit Ernst H. ein großer Fisch ins Netz gegangen ist. Deshalb klagen sie ihn auch nur der Beihilfe zum mehrfachen Mord an. 39 Seiten umfaßt die Anklageschrift. Neun Zeugen werden das Kriegsverbrechen im Sommer 1942 in der Ukraine wieder in Erinnerung rufen. Weil Ernst H. damals 19 Jahre alt und damit nach bundesdeutschem Strafrecht noch Heranwachsender war, wird vor der Jugendkammer des Landgerichts Köln verhandelt.

Daß es überhaupt dazu kommt, ist dem Zufall zu verdanken. 1992 erhielt die Zentralstelle ein Rechtshilfeersuchen. Bei den Ermittlungen gegen einen mittlerweile in Australien lebenden Ukrainer wurden Zeugen gesucht. Dem ehemaligen Angehörigen der "Gendarmerie Ustinova" werfen die australischen Behörden die Ermordung von 3 000 Juden vor. Wegen Erkrankung des Beschuldigten wurde dieses Verfahren inzwischen eingestellt. Aber von den australischen Kollegen erfuhren die Dortmunder Staatsanwälte den Namen des mittlerweile in Leverkusen lebenden "Volksdeutschen". Bei Recherchen in ukrainischen Archiven entdecken Oberstaatsanwalt Klaus Schacht und seine vier Kollegen weitere Dokumente und Beweise. Sogar einen überlebenden Zeugen des Geschehens fanden sie.

52 Jahre nach Kriegsende ist die Bilanz der bundesdeutschen Strafermittler in Sachen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen niederschmetternd. 106 000 Ermittlungsverfahren wurden in all den Jahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher eingeleitet, doch in den weitaus meisten Fällen mußten die Akten unverrichteter Dinge wieder geschlossen werden. Die Täter waren verstorben oder nicht mehr zu ermitteln. Es fanden sich keine ausreichenden Beweismittel oder keine überlebenden Zeugen mehr. Oft genug bremsten altgediente Nazijuristen die Ermittlungen aus.

Zwar sind bei der Dortmunder Zentralstelle nach wie vor noch 39 Ermittlungsverfahren anhängig, aber die Hoffnung ist gering, diese noch zur Anklage zu bringen. So wird das Verfahren wegen Beihilfe zum Mord an "mindestens 40 jüdischen Menschen" gegen Ernst H., das am Donnerstag, dem 27. November vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln beginnt, möglicherweise eines der letzten dieser Art sein.