Diamat, Histomat, Kompromat

Nach dem Griff in die Portokasse wurde der russische Finanzminister Tschubais entlassen. Erster Stellvertretender Ministerpräsident bleibt er weiterhin

Ein rundum vergnügliches Schattenboxen konnte dieser Tage in Rußland beobachtet werden: Vor rund drei Wochen drängte Rußlands stellvertretender Ministerpräsident Anatoli Tschubais, der zu diesem Zeitpunkt auch noch den Posten des Finanzministers bekleidete, Boris Beresowski aus dem Amt als Stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrates. Beresowski, einer der reichsten Männer des Landes, holte zum Gegenschlag aus und initiierte eine Kampagne in den von ihm kontrollierten Medien. Sekundiert wurde ihm von dem Bankier Wladimir Gussinski und dessen Medienmacht. Nicht Diamat und Histomat waren die Mittel in dem Machtkampf, sondern Kompromat - kompromittierendes Material, das in Hülle und Fülle auf seine Verwertung im Kreml-Kampf um Posten, Einfluß und schnelles Geld wartet: Im Zentrum der Vorwürfe standen "Honorarzahlungen", die als verdeckte Bestechungsgelder für Vergünstigungen bei Privatisierungen gewertet wurden.

Aber der Reihe nach: Bereits im Mai wurde ein Vertrag geschlossen, in dem überaus großzügige Vorschüsse - in Höhe von jeweils umgerechnet etwa 154 000 Mark - für ein Buchprojekt über die "Geschichte von Rußlands Privatisierung" vereinbart wurden. Nicht einmal ein Manuskript lag zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vor. Die Vertragspartner: Segodnja-Press, ein Verlag mit mehrheitlicher Beteiligung der Vereinigten Import-Export-Bank (Onexim-Bank) einerseits, andererseits Tschubais, das Väterchen der Privatisierungen in Rußland, und einige seiner Mitarbeiter und Vertrauten: Kasakow, der Erste Stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Boiko, seit August Stellvertretender Regierungschef und Privatisierungsminister, Mostowoi, seit Februar Leiter der Konkursbehörde, und Koch, der ehemalige Privatisierungsminister.

Ende August machte die Onexim-Bank unter ihrem Direktor und Teilhaber Wladimir Potanin, ebenfalls ein ehemaliger Erster Stellvertretender Ministerpräsident, ein Schnäppchen: Ein Viertel der Aktienanteile an dem russischen Telekomgiganten Swjasinvest gingen für mehr als 1,8 Milliarden Dollar an die von Onexim gegründete Firma Mustcom, die unter anderem die Interessen der Deutschen Morgan Grenfell, der Investment-Bank der Deutschen Bank, vertritt. Die Versteigerung des Aktienpakets sollte ein Präzedenzfall sein. Verkündet wurde, daß die Zeit der "wilden Akkumulation" vorbei sei, und daß Offenheit und Transparenz künftig die Leitlinie bei den Privatisierungen darstelle. Wer bei den Auktionen am meisten biete, erhalte auch den Zuschlag. Behauptete zumindest Tschubais.

Mittlerweile, und nicht zuletzt wegen der umstrittenen neuen "Offenheit" bei den Privatisierungen, die vor allem der Onexim-Bank zugute kam, war das 1996 geschlossene Bündnis zwischen den Banken sichtbar brüchig geworden. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos hatten sich sieben Bankiers und Unternehmer, unter ihnen auch Beresowski, darauf verständigt, gemeinsam Boris Jelzins Präsidentschaftswahlkampf zu finanzieren. Als Organisator des Wahlkampfs fungierte Tschubais. Nach den Privatisierungen dieses Sommers landete Tschubais im Schußfeld derer, die nicht zum Zuge gekommen waren - wie beispielsweise Beresowski.

Nachdem die Affäre um die "Buchhonorare" in den russischen, insbesondere in den von Beresowski und Gussinski kontrollierten Medien skandalisiert worden war, stand Tschubais zunächst da wie einer, der beim Griff in die Portokasse erwischt wurde. 95 Prozent des Honorars wolle er an einen Fonds zum Schutze des Privateigentums abführen, versicherte er; der Fonds wird jedoch von einem seiner früheren Mitarbeiter geleitet. Und am 15. November - Kasakow, Boiko und Mostowoi wurden schon gefeuert - bot er Jelzin seinen Rücktritt an. Der lehnte es zunächst mit der bemerkenswerten Begründung ab, daß in der momentanen Situation eine Destabilisierung der Regierung nicht angebracht sei, da im russischen Parlament eine Diskussion über den Haushalt für 1998 anstünde.

Erst Ende Oktober hatte die Auseinandersetzung um den Haushalt, der von der "kommunistischen" und der nationalistischen Opposition abgelehnt wird, zu einer kleinen Regierungskrise geführt. Mit der Drohung, den Haushalt auf unbestimmte Zeit zu blockieren, übte die KP unter Sjuganow nunmehr Druck auf Jelzin aus, um die Entlassung des bei der Opposition verhaßten Tschubais durchzusetzen. Mitte vergangener Woche war es dann soweit. Tschubais wurde als Finanzminister entlassen, behielt aber seinen Posten als Erster Stellvertretender Ministerpräsident - offensichtlich ein Zugeständnis an nervöse Investoren aus dem Westen. Als einer der Architekten des mafiösen Umbaus der russischen Ökonomie genießt Tschubais bei internationalen Finanzinstituten Respekt. Zugleich entließ Jelzin Boris Nemzow, der neben Tschubais als der zweite Aufsteiger dieses Jahres galt, aus seinem Amt als Energieminister. Den Posten als Erster Stellvertretender Ministerpräsident durfte Nemzow behalten. Jelzins Begründung: In Zukunft solle die strikte Trennung zwischen der Verantwortung für ein Fachministerium und dem Amt eines stellvertretenden Regierungschefs durchgeführt werden.

Zum neuen Finanzminister bestimmte Jelzin Michail Sadornow, zuvor Vorsitzender des Haushaltsausschusses der Duma. Da seine Partei, die liberale Jabloko, in der Regel in Opposition zur Regierung steht, wurde Sadornows Schritt dort keineswegs mit Begeisterung aufgenommen. Und Sadornow verließ die Partei. An der bisherigen Privatisierungspolitik kritisierte er sehr verhalten, oft habe im Vordergrund gestanden, schnell Gewinne zu machen, statt einen hohen Preis zu erzielen.

Einer in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Untersuchung des Wiener Professors Wladimir Pankow zufolge läßt sich die Privatisierung in Rußlandbislang in zwei Etappen einteilen: In der ersten Phase - von Anfang 1993 bis Mitte 1994 - kaufte die Mafiaspitze Privatisierungsgutscheine bei den Kleinaktionären auf. In der zweiten Phase, die bis heute andauert, geht es um den Verkauf großer Staatsbetriebe. Im Vordergrund stehen hierbei die Versuche, sich diese Firmen zu Schleuderpreisen anzueignen, wobei man sich der tätigen Mithilfe korrupter Privatisierungsbeamter bedient, die den Wert der Unternehmen möglichst niedrig schätzen. Dementsprechend sind die Delikte im Zusammenhang mit Privatisierungen im Jahr 1996 gegenüber dem Vorjahr um gut 60 Prozent auf 1 746 gestiegen. Die Dunkelziffer ist nicht bekannt. Daß in dem lukrativen Geschäft nicht nur mit Bestechung gearbeitet wird, zeigt der boomende Sektor der Auftragsmorde. Bereits im August konnte dies, wie der Spiegel schrieb, der Vizegouverneur von Petersburg, ein enger Freund von Tschubais, erfahren. Er wurde auf den Killing Fields der Privatisierung erschossen.