Ein Schmutzfink bringt die Truppe in Verruf

Der Skandal um Schneeberger Soldaten-Videos offenbart, was niemand wissen will: Rechtsradikale drängeln sich bei der Bundeswehr

Einer weiß es wie immer am besten: "Die Realität bei der Bundeswehr", sagte Bundeskanzler Helmut Kohl vergangene Woche zum Auftakt der 36. Kommandeurtagung in Berlin, gerate angesichts der Dramatisierungen in den Medien "völlig in den Hintergrund". Den 450 Generälen, Obersten, Admirälen und Kapitänen versicherte der Unionschef, daß die demokratische Überzeugung der allermeisten Soldaten über jeden Zweifel erhaben sei. Und auch Kohls Parteifreund Volker Rühe wurde kaum kleinlauter, obwohl nach den Schneeberger Videos über das Innenleben der Truppe jetzt noch weitere "Einzelfälle" an die Öffentlichkeit gerieten. "Für rechtsradikale Gewalttäter und menschenverachtendes Treiben ist in unserer Bundeswehr kein Platz", erklärte der Verteidigungsminister seinen untergebenen Befehlshabern in der Bundeshauptstadt. Und der Generalinspekteur der Truppe, Hartmut Bagger, versprach mit Blick auf die antisemitischen und rassistischen Outings im Gebirgsjägerbataillons 571 ein hartes Vorgehen gegen diese Einzelfälle: "Eine Schande für die Bundeswehr." Und: "Hier gibt es keine Toleranz."

Bleibt die Frage, für wen. Schließlich vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue wehrerfahrene deutsche Jungmänner als Kronzeugen für den in deutschen Kasernen alltäglichen Rechtsradikalismus auftauchen. "Mindestens zehn Prozent der Leute waren rechtsextrem", berichtet ein Thüringer Soldat, der im Oktober 1994 seinen Dienst als Fallschirmjäger im schwäbischen Calw begonnen hatte, nach drei Monaten aber wieder ausstieg, weil ihm "das Klima äußerst unangenehm" gewesen sei. Auch Oliver B. verließ die Bundeswehr früher, als er eigentlich wollte. Allerdings unfreiwillig, wie er der Berliner Zeitung berichtet. Da er mehrfach den Kühnen-Gruß gezeigt, dazu "Heil Hitler" und "Sieg Heil" gerufen hatte, wurde er nach der wehrpflichtigen Zeit nicht als Zeitsoldat in die Armee übernommen. Der 22jährige Rechtsradikale aus Niedersachsen, der in der Kyffhäuser-Kaserne im thüringischen Bad Frankenhausen stationiert war, ist deshalb verwundert. Schließlich sei dort "etwa die Hälfte genauso wie ich eingestellt". Ähnliches bestätigt auch der Bundeswehr-Aussteiger Matthias Bürgin aus dem baden-württembergischen Balingen: "In jeder Kompanie habe ich rechtsextreme Vorgänge und Vorgesetzte gehabt." In seiner knapp 20monatigen Armeegeschichte kann der Kurzzeit-Zeitsoldat bereits auf ausführliche Erfahrungen zurückblicken. So hätten sich "Kameraden" vor einem feierlichen Gelöbnis im schwäbischen Sigmaringen, zu dem der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, eingeladen war, beschwert: "Was will das Judenschwein hier? Man sollte die Öfen wieder anwerfen."

Rühes Truppe hat es in sich. Gegen 161 Bürger in Uniform wird seit Beginn des Jahres in 126 Fällen wegen des Verdachtes auf fremdenfeindliche oder rechtsextremistische Straftaten ermittelt - unter ihnen sieben Offiziere. Claire Marienfeld, die Wehrbeauftragte des Bundestags, spricht von 93 Vorfällen bis Mitte Oktober. Etwa 700 Verdachtsfälle mit rechtem Hintergrund, so berichtet der Verteidigungsausschuß, verfolgt der Militärische Abschirmdienst jährlich. Von den ganz legalen, traditionell freundschaftlichen Bindungen zwischen altgedienten Wehrmachtsveteranen und ihren Nachfolgern von der Bundeswehr ganz zu schweigen.

Nach Angaben von Mike R., der dem Privatsender Sat 1 das rund fünftstündige Bandmaterial von Schneeberg zur Verfügung gestellt hatte, floriert in den Kasernen zudem ein schwunghafter Handel mit Nazi-Videos und rechter Literatur, Reichskriegsflaggen, indizierten Musikkassetten sowie Hakenkreuzfahnen. Mike R.: "Auch Hitlers 'Mein Kampf' war lieferbar. Das hätte nur etwas länger gedauert." Die Wiking-Jugend ebenso wie die rechtsextremen Parteien DVU und NPD verteilten nach Aussagen des ehemaligen Soldaten Propagandamaterial. Ein "rechtsradikaler Schmutzfink", reagierte Rühe auf den aus der rechten Szene ausgestiegenen Mike R., der "Hunderttausende anständiger Soldaten" in Verruf bringe.

Nun will der Chef von der Bonner Hardthöhe endgültig die Dienstaufsicht verschärfen. Trotz heftiger Kritiken von Datenschutzbeauftragten besteht er zudem weiterhin darauf, Daten über einschlägige Vorstrafen von Wehrpflichtigen zu erhalten. Für den grünen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei ist Rühes ordnungspolitisches Vorgehen "grob fahrlässig", weil Rühe gleichzeitig mutwillig die Öffentlichkeit "blind gegenüber dem realen Umfang des Problems" halte. "Der Minister will keine Untersuchung darüber, ob die militärische Ausbildung Rechtsradikalismus begünstige oder nicht", sagte Nachtwei gegenüber Jungle World. Während im militärischen Bereich ein Lagebild "das A und O jedes Handeln" sei, verweigere Rühe Studien, wenn es um solche Themen gehe. Der grüne Wehrspezialist fordert neue Untersuchungen, vermutet aber, daß diese Rühe zu riskant sind. Zu Recht: Werfen doch die Ergebnisse bisheriger Forschungsaufträge ein grelles Licht auf den Zustand des Heeres. Zunehmend werde die Truppe "für junge Männer attraktiv, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind", resümiert eine vom bundeswehreigenen Sozialwissenschaftlichen Institut erstellte Studie von 1992. Eine Untersuchung der Hamburger Bundeswehr-Hochschule kommt zu einem ähnlichen Fazit: "Tradiert konservatives Gedankengut und militärische Lebenswelt ziehen einander an." Über die Hälfte aller angehenden Offiziere ordnet sich demnach "rechts von der Mitte" ein, jeder Fünfte vertritt national-konservative Positionen. Unter ihnen sucht Gerhard Zwerenz, der friedenspolitische Sprecher der PDS-Bundestagsgruppe, in erster Linie die Verantwortlichen für rechtsradikale Tendenzen beim Bund, wie er während einer Debatte am 30. Oktober im Bundestag deutlich machte. Seine Logik ist einfach: "Oben wird etwas hineingesteckt, das dann unten entsprechend radikalisiert, nämlich rechtsradikalisiert, herauskommt", sagte er mit Blick auf militärverherrlichende und rassistische Veröffentlichungen in der Bundeswehr-Zeitschrift Truppenpraxis Wehrausbil-dung.

Weniger militärkritisch zeigte sich sein Kollege in der PDS-Bundestagsgruppe Heinrich Graf von Einsiedel. Der nämlich will nicht "zu den Leuten" gehören, "die für diese rechtsradikalen Elemente die Bundeswehr pauschal verantwortlich machen wollen". Der Graf spricht von einem "ekelhaften Geschwür", von einer "Krankheitserscheinung am Körper der Bundeswehr". Dagegen nehmen sich die Begriffe "rechtsradikale Verwirrte" oder "radikale Erscheinungen", wie sie Volker Rühe und Helmut Kohl vor ihren Kommandeuren formulierten, beinahe bescheiden aus. Doch im Grunde ist man sich einig: Wer rufschädigend über die Stränge schlägt, wird zum Fremdkörper im kerngesunden Organismus der Bundeswehr erklärt.