Wie antisemitisch war die DDR?

Über das Verhältnis der SED zum Zionismus und zum Staat Israel. Eine Diskussion

Elsässer: Michael Wolffsohn behauptet, die SED habe eine antisemitische Politik betrieben.

Timm: Bei aller Kritik an der SED - das kann man nicht sagen. Der Antizionismus und die Frontstellung gegen Israel, wie sie zumindest seit Ende der vierziger Jahre praktiziert wurden, waren in erster Linie der außenpolitischen Konstellation im Kalten Krieg geschuldet. Daß sich an diesen Antizionismus auch Antisemiten anhängen konnten, aus der Bevölkerung und aus der Partei, steht auf einem anderen Blatt, das würde ich unterscheiden.

Dennoch gab es eine Phase, in der ich auch in der Politik der SED-Spitze klare antisemitische Züge erkenne, und zwar Anfang der fünfziger Jahre bis etwa zum Tode Stalins 1953. Im Gefolge der Schauprozesse gegen "Kosmopoliten und Zionisten", wie sie auf Wink Stalins in den meisten osteuropäischen Ländern durchgeführt wurden, wurde ein solcher Prozeß auch in der DDR geplant, im Zentrum der Anklage stand das Politbüromitglied Paul Merker, unter anderem, weil er sich für Restitutionen an aus Deutschland geflüchtete Juden einsetzte.

Damals flüchteten die meisten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden aus der DDR in den Westen. Sie hatten Angst bekommen, weil die Staatssicherheit Listen über die Juden anlegte und zu diesem Zweck DDR-Bürger jüdischer Herkunft stundenlangen Verhören unterzog. Das waren Maßnahmen, die sich gegen Juden generell richteten, daher muß man sie als antisemitisch kennzeichnen.

Nach dem Tod Stalins aber wurde diese Politik, wenn auch zögerlich, revidiert, Paul Merker und andere wurden freigelassen. Insgesamt hat wohl eine Mischung mehrerer Faktoren vorgelegen: Die SED-Spitze um Ulbricht kopierte den Antisemitismus Stalins, wollte über den Zionismus-Vorwurf aber auch eigene Machtinteressen innerhalb der Partei durchsetzen: Gegen den Teil der Funktionäre, die - anders als die Gruppe Ulbricht - während des Faschismus nicht in Moskau, sondern im Westen Exil gefunden hatten. Als die Kampagne ausuferte und auch in der Bevölkerung der Antisemitismus sich stärker artikulierte, wurde im übrigen auch wieder gegengesteuert, das bezeugen entsprechende Prozesse der Bezirksgerichte Gera, Frankfurt/Oder und Magdeburg gegen Bürger, die antisemitischer Äußerungen beschuldigt wurden. Die SED praktizierte also auch in dieser dunkelsten Phase einen politisch-taktischen Antisemitismus, den man von dem wahnhaften Vernichtungs-Antisemitismus der Nazis unterscheiden muß.

Elsässer: Man kann nicht darauf bauen, daß dieser von Ihnen als "politisch-taktisch" bezeichnete Antisemitismus sich nicht zu einem eliminatorischen Antisemitismus steigert. Nehmen Sie Stalin, dessen Antisemitismus Sie ja nicht durch das Attribut "politisch-taktisch" abschwächen und der trotzdem, das ergeben jedenfalls Recherchen des auch von Ihnen geschätzten David Rapoport in seinem Buch "Hammer, Sichel, Davidstern", wenigstens die Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien geplant haben soll: Hat bei Stalin dieser Antisemitismus nicht auch "politisch-taktisch" begonnen, nämlich als Joker im Linienkampf gegen den Juden Trotzki, und Fahrt gewonnen, indem er sich mit dem im Volk verbreiteten Antisemitismus amalgamiert hat?

Timm: Ich denke, daß der Einfluß Stalins auf die SED der entscheidende Faktor war und man nicht von einem genuinen Antisemitismus in der SED sprechen kann. Sonst wäre nicht erklärbar, wieso antisemitische Anspielungen in der SED-Propaganda erst nach dem Slansky-Prozeß in Prag auftauchen und nach dem Tod des Generalissimus wieder verschwanden. Es besteht auch ein Zusammenhang zu Stalins außenpolitischen Absichten: Erst nachdem dessen Deutschland-Plan - Wiedervereinigung als kapitalistischer, aber neutraler Staat - durch die Bundesregierung abgelehnt wurde, beginnt die Prozeßwelle in der DDR.

Weiterhin darf man nicht vergessen, daß antisemitische Aussagen immer im Widerspruch zum Antifaschismus standen, der als zentrales ideologisches Element den Staat DDR legitimierte und gewissermaßen als Fessel zumindest für dessen offene Artikulation wirkte.

Elsässer: Für die frühen fünfziger Jahre konstatieren Sie antisemitische Züge in der SED-Politik, für später nicht mehr. Aber was ist mit der Propaganda während des Sechs-Tage-Krieges 1967, die doch zumindest in Polen...

Timm: ...zum Massenexodus der dort noch lebenden Juden geführt hat, zweifellos. Aber in der DDR hat die Staats- und Parteispitze, ganz anders als in Polen, nicht gegen die im Lande lebenden Juden polemisiert und sie zur Ausreise gedrängt. Es gab in der DDR, mit Ausnahme der erwähnten fünfziger Jahre, immer eine klare Scheidung zwischen der Innenpolitik gegenüber den jüdischen Gemeinden einerseits und der Außenpolitik gegenüber Israel.

Die scharfe Polemik der DDR-Medien gegen Israel im Zuge des Sechstagekrieges folgte einer Direktive Albert Nordens, der selbst aus einer jüdischen Familie kam. In diesen Polemiken wurde oft mit Tatsachen- und Geschichtsklitterungen gegen Israel gearbeitet, aber weniger aus Antisemitismus als in Verfolgung außenpolitischer Interessen: Ulbricht hatte 1965 Nasser besucht, viele arabische Staaten wollten die DDR anerkennen und so deren internationale Isolierung durchbrechen helfen.

Elsässer: Also lediglich außenpolitischer Pragmatismus stand hinter den unseligen Vergleichen zwischen Israel und Nazi-Deutschland, die in der DDR-Presse 1967 gezogen wurden? Simon Wiesenthal kam zu einem anderen Ergebnis. Er hat 1967 eine Untersuchung über wichtige Journalisten in den DDR-Medien vorgelegt, die vor 1945 auch für die Nazis geschrieben hatten. Wiesenthals Schlußfolgerung: So, wie da gegen Israel gehetzt wurde, haben sie es von Goebbels gelernt.

Timm: Das sind vermutlich weitere Beispiele dafür, wie sich tradierter Antisemitismus hinter dem staatlichen Antizionismus verstecken konnte. Aber ich würde nicht generalisieren: Nicht jeder, der für die Nazis gearbeitet hat, ist auch nach dem Krieg Nazi geblieben. Es gab auch Menschen, bei denen Lernprozesse eingesetzt haben.

Elsässer: Gegen die These, daß außenpolitischer Utilitarismus und nicht Antisemitismus der Hauptmotor der DDR-Politik gegenüber Israel war, spricht auch die Tatsache, daß die arabischen Staaten in großem Umfang Nazi-Kriegsverbrecher in ihre Dienste gestellt hatten. So wurde das ägyptische Raketenprogramm Anfang der sechziger Jahre von V2-Spezialisten aus Peenemünde entwickelt. Das mußte doch der SED bekannt sein, oder?

Timm: Das war ihr durchaus bekannt. So war in einem Artikel in der Weltbühne im Januar 1949 zu lesen: "Berater des ägyptischen Generalstabes sind ehemalige Stabsoffiziere des Afrikakorps. Unter den Truppenführern finden wir den SS-Gruppenführer Katzmann, der einst in Polen eine Sonderplizeidivision befehligt hat und Spezialist war für die Ausrottung von Juden. Heute führt er Krieg gegen Israel." Autor dieses Artikels war ein gewisser Karl Eduard von Schnitzler ... Auch die Machtübernahme durch Nasser und seine Offiziere wurde zunächst von der SED kritisch eingeschätzt, man sprach von einem Militärcoup. Das änderte sich erst, als sich während der Suez-Krise 1956 Nasser gegen Großbritannien und Frankreich positionierte und eine Landreform einleitete. Das heißt: Die DDR hat für die arabischen Staaten nicht wegen, sondern trotz deren zum Teil antisemitischer Politik Partei ergriffen, weil sie sich davon außenpolitischen Nutzen versprach.

Elsässer: Meine Befürchtung ist, daß der sogenannte arabische Sozialismus eines Nasser oder eines Saddam Hussein die Lüge der Totalitarismus-These wahr gemacht hat: Daß es eine gemeinsame ideologische Plattform von nationalen Sozialisten und Nationalsozialisten gibt - für die Nationalisierung der Produktion unter dem Kommando des starken Staates, gegen die internationale Hochfinanz unter Führung der Zionisten. So etwas kann man heute auch von den Splittergruppen der ehemaligen KPdSU hören...

Timm: Das ist gut möglich. Ich will auch nicht abstreiten, daß die SED damit kokettiert hat, daß man als deutscher Staat in der arabischen Welt einen guten Namen hatte - wegen der Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland. Für diese Koketterie spricht auch, daß der erste DDR-Politiker, der Ägypten besucht hat, von der NDPD kam - damit wurde gerade das Nationale betont, was auch dem "arabischen Sozialismus" so wichtig war. Andererseits hat die SED seit Ende der sechziger Jahre versucht, extremistische Politiker in den arabischen Staaten und in der PLO, die sich für die Zerstörung Israels aussprachen, zu beschwichtigen oder zu isolieren.

Fahrlässig an der SED-Politik gegenüber Israel war vor allem, daß man den Staat nicht als Konsequenz der Shoa betrachtete, daß man den "deutschen Schatten über Israel" - so eine Formulierung von Stephan Hermlin - nicht wahrnehmen wollte.

Elsässer: Ein Rezensent hat Ihnen vorgeworfen, daß Sie in Ihrem Buch Ihre eigene Rolle in der DDR-Politik gegenüber Israel verschweigen.

Timm: Behauptet wurde sogar, ich sei Honeckers Nahost-Expertin und Dolmetscherin gewesen. Das stimmt so nicht: Ich war Hebräisch-Dolmetscherin, habe jedoch nie für Honecker übersetzt, und das ZK hatte seine eigenen Nahostexperten, die entsprechende Analysen verfaßten. Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bekam ich ab und zu einen Anruf aus dem Außenministerium und wurde nach meiner Meinung zu aktuellen Entwicklungen in Israel gefragt, und schließlich war ich bei den Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Israel als Übersetzerin dabei. Das war aber erst Ende Januar 1990.

Dennoch muß ich mir vorhalten, daß das Schwarz-Weiß-Denken und ungerechtfertigte Schuldzuweisungen an Israel auch in meinen früheren Arbeiten zu finden sind - ein bedrückender Umstand, auf den ich in meinem Buch auch eingegangen bin.

Elsässer: Was hat Sie zum Umdenken gebracht?

Timm: Als ich 1985 zum ersten Mal nach Israel fahren konnte und dort mit Menschen gesprochen habe, habe ich gemerkt, wie präsent die Shoa dort immer noch ist. Traumatische Erinnerungen, die verständlich machen, warum die Israelis nie mehr zu wehrlosen Opfern werden wollen und ein berechtigtes Bedürfnis nach Schutz, auch nach militärischem Schutz, haben. Das bedeutet nicht, die israelische Regierungspolitik außerhalb der Kritik zu stellen. Aber man muß erkennen, und leider habe ich dafür noch einige Jahre gebraucht, daß Israel eine Konsequenz des Völkermords an den europäischen Juden ist und daß diesem Umstand jede deutsche Kritik an Israel Rechnung zu tragen hat.

Elsässer: Was waren in der SED die Ursachen für das Ausblenden dieses zentralen Aspekts?

Timm: Ein wichtiger Grund lag in unserer verkürzten Faschismus-Analyse: Er wurde nur politökonomisch erklärt, als Herrschaft des Monopolkapitals und als Mittel zur Zerschlagung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen. Daß aber die Judenvernichtung der Mittelpunkt des Nazi-Terrors war, und daß daran neben dem Monopolkapital auch breite Schichten der Bevölkerung beteiligt waren - das haben wir weitgehend ignoriert.

Dr. Angelika Timm ist Dozentin am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. 1997 erschien ihr Buch "Hammer, Zirkel, Davidstern" bei Bouvier in Bonn