Patentrezept Vergeltung

Die Gefängnisse sind total überbelegt. Statt auf Ursachenforschung setzen die Justizminister zeitgemäß auf Repression

Deutschlands Gefängnisse platzen aus den Nähten. Immer mehr Menschen sitzen immer länger hinter Gittern. Im November letzten Jahres - neuere Zahlen kennt man im Bundesjustizministerium nicht - saßen insgesamt 73 540 Gefangene, fast alles Männer, in den Justizvollzugsanstalten ein. Das sind 6 000 mehr als im Herbst 1993, als bereits eine dramatische Überbelegung der Gefängnisse festgestellt wurde. Die Belegungsfähigkeit der deutschen Knäste steigt hingegen kaum. Den 73 540 Häftlingen stehen 71 309 Haftplätze gegenüber. 42 144 Gefangenen sitzen eine Strafhaft ab, 20 404 eine Untersuchungshaft. Jugendfreiheitsstrafen verbüßen 5 033 Menschen, 177 als besonders gefährlich geltende Gefangene wurden nach dem Ende ihrer Haftzeit in eine anschließende sogenannte Sicherungsverwahrung genommen. Die Zahl der Abschiebehäftlinge beläuft sich auf 1 797.

Fragt man nach Strategien gegen die stetig kletternden Gefangenenzahlen, stößt man bei den politisch Verantwortlichen auf eindimensionale Lösungsansätze. Über die Gründe für die jetzige Situation macht man sich in den zuständigen Ministerien wenig Gedanken. Statt dessen wird über den Bau weiterer Haftanstalten und über die beschleunigte Abschiebung straffällig gewordener AusländerInnen nachgedacht. Doch das Gedränge in den Knästen geht weiter. Oft müssen sich zwei Gefangene eine Acht-Quadratmeter-Einzelzelle teilen. Das ist zwar gesetzeswidrig - offiziell stehen jedem Häftling mindestens sieben Quadratmeter zu -, doch anders wissen die Behörden das Problem nicht zu meistern.

Im Untersuchungsgefängnis Stuttgart-Stammheim ist die Situation besonders schlimm. 810 Männer teilen sich die zur Verfügung stehenden 640 Haftplätze. In manchen Zellen hat man einfach eine Matratze auf den Boden gelegt. Eine seit Jahren übliche Praxis. Die U-Häftlinge bringen oft 23 Stunden am Tag in ihren engen Zellen zu. Arbeit gibt es nur für den geringsten Teil. In Baden-Württemberg saßen im Mai dieses Jahres 8 900 Gefangene ein. Das ist der absolute Höchststand. Im Sommer ging die Zahl leicht zurück, bei den erwachsenen Männern liegt sie aber immer noch um etwa 1 200 über der Zahl der Haftplätze.

In anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus. In Brandenburg etwa sind für die derzeit 2 076 Häftlinge 1 839 Haftplätze vorgesehen. Dieser Zustand besteht in derselben Dimension bereits mehrere Jahre. Im Frühsommer ließ Justizminister Hans Otto Bräutigam (SPD) in Cottbus und Stadt Brandenburg sogenannte Haftcontainer aufstellen. Sie sollen als Zwischenlösung bis zur Fertigstellung des Gefängnisneubaus in Cottbus - voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2002 - dienen. Neubauten sollen auch in Wulkow bei Neuruppin und in Fahrland bei Potsdam entstehen.

Wie der Sprecher des baden-württembergischen Landesjustizministeriums, Kai Sonntag, gegenüber Jungle World erklärte, versucht man auch im Schwabenland, unter anderem mit dem Bau neuer Haftanstalten, der Lage Herr zu werden. So werde der im Bau befindliche Knast in Schwäbisch-Hall vermutlich im März 1998 fertig sein. Doch die Belegungsfähigkeit im Land wird dadurch nicht erhöht. Denn dafür wird der alte Knast im Stadtzentrum der hohenlohischen Kleinstadt geschlossen. Nur drei der 20 Haftanstalten im angeblichen Musterland stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Rest aus grauer Vorzeit, als Vollzugsanstalten noch Zuchthäuser hießen.

Weil also zahlreiche Zuchthäuser eigentlich zeitgeschichtliche Museen sind und - während sie weiter in Betrieb bleiben - auf ihren Abriß warten, wird mit dem Neubau von Haftanstalten allein das Problem der Überbelegung nicht zu bewältigen sein. Das Justizministerium in Stuttgart konzentriert sich bei seinen übrigen Maßnahmen vor allem auf die inhaftierten AusländerInnen. Pro Monat werden rund 70 bis 80 Straf- und Untersuchungsgefangene, die keinen deutschen Paß haben, vorzeitig aus der Haft entlassen und sofort in ihr Herkunftsland abgeschoben. Auch die Zahl der "Heimatverbüßungen" soll erhöht werden, erklärte Sonntag. Ein weiteres Mittel, um vor allem Untersuchungshaft zu vermeiden, sind beschleunigte Strafverfahren, Schnellgerichte. Ein Pilotprojekt läuft bereits seit Anfang des Jahres mit vier Staatsanwaltschaften.

Außerdem fordert das baden-württembergische Justizministerium die Einführung der elektronischen Fußfessel bei Ersatzfreiheitsstrafen. Mit dieser an das Fußgelenk befestigten Sender-Manschette können die Bewegungen der im sogenannten Hausarrest lebenden Verurteilten genau überwacht werden. Ist ein mit einem solchen Sender ausgestatteter Häftling nicht pünktlich zur festgelegten Zeit in seiner Wohnung oder an seinem Arbeitsplatz, wird sofort bei der nächsten Polizeiwache ein Signal ausgelöst und die Bewährungsbehörde informiert. In den USA und Schweden wird die elektronische Fußfessel seit Jahren eingesetzt. In Deutschland müßte zunächst das Strafvollzugsgesetz geändert werden. Dafür haben sich bei der Länderjustizministerkonferenz im Juni fast alle Bundesländer ausgesprochen. Der grüne Justizminister aus Hessen, Rupert von Plottnitz, bildete da keine Ausnahme. Berlin und Hamburg werden eine entsprechende Bundesratsinitiative einbringen, kündigte Plottnitz an. Nur Bayern und Sachsen blocken ab - für sie ist das an orwellsche Überwachungsalpträume erinnernde Modell eine zu liberale Lockerung.

Doch von einer Lockerung kann kaum die Rede sein. Schließlich wird der Verurteilte mit der elektronischen Schnalle dazu gezwungen, seinen eigenen Vollzug zu gestalten. Er muß sich sozusagen selbst in der Wohnung einsperren. Es gibt bisher keinerlei Forschungen, die über die psychologischen Folgen einer solchen erzwungenen Selbstbeschneidung Auskunft geben. Gabriele Kawamura von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe befürchtet eine Ausweitung der sozialen Kontrolle. Das Beispiel USA zeige zudem, daß die Zahl der Inhaftierungen seit der Einführung des elektronisch überwachten Hausarrestes keineswegs zurückgegangen sei - im Gegenteil. Von der Fußfessel seien hauptsächlich Leute betroffen, die ansonsten eine Bewährungsstrafe bekommen hätten.

Während es also verschiedene, zumeist repressive Vorstellungen gibt, wie die Überbelegung verwaltet oder abgebaut werden kann, wird auf Ursachenforschung völlig verzichtet. Während der bayerische Innenminister Hermann Leeb (CSU) die "außerordentlich starke Zunahme von ausländischen Gefangenen" beklagt und die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa mit dem Öffnen der Büchse der Pandora vergleicht, sehen das seine KollegInnen im nordrhein-westfälischen Justizministerium ganz anders. Auch in NRW sind die Knäste total überbelegt. Den stetigen Zuwachs der Gefangenenzahlen führt man in Düsseldorf allerdings vor allem auf die zunehmenden Erfolge der Polizei bei der Kriminalitätsbekämpfung zurück, die wiederum auf die immer weiter reichenden Rechte der Verfolgungsbehörden und die wachsende Polizeidichte zurückgehen. Es habe auch eine große Anzahl ausländerfeindlicher und rechtsextremistischer Straftäter gegeben, die von den Gerichten sehr hart und schnell abgeurteilt worden seien, hieß es aus dem Ministerium. Auch in NRW gibt es einen überproportionalen Anteil an ausländischen Gefangenen - vor allem in der U-Haft. Das Justizministerium am Rhein hat dafür aber eine andere Erklärung als das an der Isar: AusländerInnen sind nicht besonders kriminell, sie werden nur wegen angeblicher Fluchtgefahr öfter als deutsche Gefangene bis zum Prozeßbeginn in U-Haft gehalten.

Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (PDS) hat noch eine dritte Erklärung für den Haftboom: Zum einen würden immer häufiger Bagatelldelikte wie Drogenvergehen, Kaufhausdiebstahl oder wiederholtes Schwarzfahren mit Gefängnis geahndet, zum anderen gebe es immer weniger Vollzugslockerungen. Auch von der Möglichkeit, Häftlinge vorzeitig zu entlassen, werde seltener Gebrauch gemacht. Die meisten zu lebenslanger Haft Verurteilten säßen heutzutage länger als 15 Jahre. Insgesamt gebe es eine Verschärfung des Strafvollzugs. In der Tat befinden sich von den bundesweit über 73 000 Gefangenen nur 8 684 im Offenen Vollzug. Statt auf Resozialisierung wird immer mehr auf Repression gesetzt. Haftstrafen sollen hauptsächlich abschrecken, nicht zu einer Wiedereingliederung in die "normale", also nach bürgerlichen Maßstäben nicht-kriminelle Gesellschaft führen.