Heiße Grenze

Auszüge aus der Persönlichen Erklärung von Egon Krenz am 19. Februar 1996

Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren,

(...) An die Toten und Verletzten denke ich mit dem bitteren Gefühl eines Mannes, der weiß, daß die Macht der DDR allein nicht ausreichte, Blutvergießen an der wohl heißesten Grenze des Kalten Krieges vollständig zu verhindern. (...)

Grundsätzlich widersprechen möchte ich der Anklage in fünf Punkten:

Erstens: Die Grenze zwischen der DDR und der BRD war kein Willkürakt des SED-Politbüros. Sie war ein Resultat des Zweiten Weltkrieges, der Spaltung der Welt in zwei Lager, eine Geburt des Kalten Kriegs.

Die Schuldigen für die Grenze sind jene, die 1933 an die Macht kamen. Sie sind für den Krieg verantwortlich und bewirkten die Niederlage, in deren Konsequenz die Siegermächte durch Deutschland die Grenze zogen. (...)

Die Staatsanwaltschaft stellt die unhaltbare Behauptung auf, "daß dem Politbüro die Entscheidung über den Fortbestand des besonderen Grenzregimes oblag". Dies ist weder juristisch noch politisch richtig. Diese Entscheidung hätte einzig und allein auf Vorschlag der UdSSR das Spitzengremium des Warschauer Vertrages treffen können.(...) Unzweifelhaft waren die SED, ihr Zentralkomitee und dessen Politbüro die wichtigsten Zentren der politischen Willensbildung in der DDR. Es ist jedoch falsch, anzunehmen, daß das Politbüro - selbst wenn es gewollt hätte - mächtig genug gewesen wäre, den Status quo in Europa anzutasten.

Zu keinem Zeitpunkt vor 1989 hatte das SED-Politbüro die Macht, das Grenzregime zwischen den beiden militärischen Blöcken zu bestimmen oder zu verändern.

Im Eröffnungsbeschluß steht: Das SED-Politbüro habe die "Herrschaft über das Grenzregime" innegehabt. Dies ist so falsch, als würde behauptet, die Bundesregierung habe den Befehl über die NATO. Wie sehr Grenzfragen nicht allein in der Hand der DDR lagen, belegen die Äußerungen des amerikanischen Präsidenten 1987 am Brandenburger Tor. Reagan forderte bekanntlich nicht Honecker, nicht Hager, nicht Mückenberger, Dohlus, Kleiber, Schabowski und auch nicht Krenz, sondern Gorbatschow auf, die Mauer einzureißen. (...)

Zweitens: Der Bau der "Berliner Mauer" war kein Alleingang der DDR. Er war Ausdruck des Willens der Siegermächte, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges abzusichern.

Die Sowjetunion hatte die Maßnahmen vom 13. August 1961 seit 1958 politisch inspiriert. Sie hat sie militärisch gedeckt und geführt. Die USA waren vorher eingeweiht. Die Westmächte haben den Mauerbau respektiert. (...)

Das Völkerrecht verpflichtet keinen Staat, seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Es ist daher abenteuerlich, dem SED-Politbüro nachträglich zu unterstellen, es hätte die Rechtspflicht zur Abschaffung des Grenzregimes, mithin zur Beseitigung der DDR als Staat gehabt.(...)

Der Beschluß des Ministerrats der DDR vom 12. August 1961 zur Grenzbefestigung kam zustande - nicht bloß, wie der Bundesgerichtshof im Verteidigungsrats-Urteil irrtümlich annimmt, "nach Gesprächen mit den Verantwortlichen und anderen Staaten, die Mitglied des Warschauer Pakts waren", sondern aufgrund eines Beschlusses des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages. (...)

Fünftens: Die Westgrenze der DDR war nicht nur System-, Block-, Währungs- und Wirtschaftsgrenze. Die DDR war in Grenzfragen gegenüber der Sowjetunion völkerrechtlich gebunden. Ohne ihr Einverständnis hätte die DDR das Regime an der Außengrenze des Warschauer Vertrages nicht ändern können.

(...) Die Staatsgrenze der DDR war zugleich die sensibelste Grenze der Welt. Jede Veränderung der politischen Großwetterlage zwischen den USA und der UdSSR, zwischen der DDR und der BRD, war an dieser Grenze unmittelbar zu spüren. So ist zu erklären, daß in Zeiten der Entspannung bestimmte Maßnahmen gelockert und in Zeiten erhöhter Spannung die Grenzkontrolle verschärft wurde. Das geschah immer auf Weisung oder in enger Abstimmung mit den zuständigen sowjetischen Partner.