Die Rüstung entrostet

Mit neuen Kampfverbänden will die Bundeswehr das Image von der Salonarmee loswerden

Von der Küste her fliegen sechs im albanischen Luftraum nicht angemeldete CH-53-Hubschrauber auf die Hauptstadt Tirana zu - es ist Freitag, der 14. März 1997. Nach einem, wie es später heißt, 1 000-Meter-"Sturzflug" landet um 15.31 Uhr die erste Maschine auf dem alten Flughafen. Soldaten, allen voran der kommandierende Fallschirmjäger-Oberst Henning Glawatz, springen von der Heckrampe und winken wartende Zivilisten heran. Jetzt muß alles schnell gehen, denn zuvor waren US-Hubschrauber gezwungen, eine Evakuierung der 104 Ausländer nach starkem Beschuß abzubrechen. Schüsse aus zwei plötzlich auf der Piste heranrasenden gepanzerten Kleinlastern werden von deutschen Sicherungssoldaten sofort mit Maschinengewehrfeuer erwidert. Die Fahrzeuge drehen ab. Eine halbe Stunde später hebt der letzte Transporthubschrauber ab. Eine im Heck einschlagende Gewehrkugel richtet keinen Schaden an.

Verteidigungsminister Volker Rühe nennt diesen ersten Kommandoeinsatz der Bundeswehr "für Deutschland historisch". Kein Wunder, schließlich mußten drei Jahre zuvor in Ruanda eingeschlossene Mitarbeiter der Deutschen Welle noch von belgischen Fallschirmjägern befreit werden. "Was in Ruanda passiert ist, möchte ich nicht wieder erleben", kommentierte der damalige Heeresinspekteur Hartmut Bagger das Unvermögen der bislang vor allem für den massiven Landkrieg in Europa ausgebildeten Bundeswehr. Seither wird zielstrebig daran gearbeitet, deutsche Soldaten, vor allem die insgesamt 50 000 Mann starken Krisenreaktionskräfte (KRK), auf Einsätze außerhalb der Bundesrepublik vorzubereiten. Dabei geht es allerdings nur noch nebenbei um die publikumswirksame Evakuierung hilfloser Zivilisten. Ex-Generalinspekteur Klaus Naumann sah 1995 in einer Lagebeurteilung vielmehr die Chance für Deutschland, "politischer Akteur" zu werden, endlich nicht mehr im "Maschinenraum des Dampfers UN, KSZE oder Nato" zu stehen, "sondern auf der Brücke". Um Sicherheit für Europa zu erreichen und militärische "Konflikte von uns auf Distanz zu halten", könnten Einsätze deutscher Truppen allerdings nicht mehr auf Europa beschränkt werden. Für den heute der Nato-Militärkommission vorstehenden Naumann ist Deutschland schlicht eine "kontinentale Mittelmacht mit weltweiten ... wirtschaftlichen Interessen", die es auch zu sichern gilt.

Gefolgschaft in diesem Sinne hatte Naumann von der Truppe schon früh eingefordert. Während der Kommandeurstagung 1992 in Leipzig hielt er den Offizieren vor, "Speck" und "Rost" angesetzt zu haben. Geradezu mörderisch ärgerte er sich über Weinerlichkeit und Verzagtheit der Männer. Damals hatte ein Soldat vor laufenden Kameras geäußert, beim Golfkriegseinsatz in der Türkei um Jahre gealtert zu sein. Den Kommandeuren warf Naumann anhand dieses Beispiels vor, die Realität eines Einsatzes aus dem Denken verdrängt zu haben.

Das ist Vergangenheit. Naumanns Visionen werden Schritt für Schritt Realität. So beschäftigt sich die Bundeswehr heute weit gezielter mit psychologischen Anforderungen von Kampfeinsätzen. Bei der Ausbildung wird dabei mit dem alten Tabu gebrochen, über "Gefahren für Leib und Leben" nicht zu sprechen. Beim Koblenzer Zentrum für Innere Führung konzentriert man sich beispielsweise auf Seminare zum "Umgang mit Verwundung und Tod im Einsatz", zur Angstbewältigung, zu Bedrohungssituationen wie Geiselnahme oder Gefangenschaft, zum Verhalten unter Folter sowie zum Umgang mit allgegenwärtigen Journalisten. Das reicht bis zu zwölf Regeln, die für das Überbringen einer Todesnachricht an die Hinterbliebenen angeboten werden. Dabei geht es vor allem um die Frage, so Brigadegeneral Hans-Christian Beck in einem Beitrag für die Bundeswehrzeitschrift "Truppenpraxis", wie Soldaten beim Umgang mit diesen Grenzfragen des Lebens "trotz äußerster physischer und psychischer Belastung handlungsfähig bleiben können."

Stärker gefordert werden künftig auch die gut 140 Militärpsychologen der Bundeswehr, die sich laut Auftrag der militärischen Führung auf die Betreuung der Soldaten im Einsatz vorbereiten sollen. Die diskutierten Fragen sind dabei schon recht speziell. Abgeschaut wird beispielsweise beim Umgang mit völlig abgekämpften Soldaten von den Israelis. Sie behandeln durch "Battle-fatigue" - einen schweren psychischen Erschöpfungszustand - kampfunfähige Soldaten möglichst nah hinter der Front. Halbwegs stabilisiert können die Männer dann nach spätestens zwei Tagen wieder in den Kampf geschickt werden. Diese Methode soll psychische Spätfolgen verhindern helfen. Auf Kriegserfahrungen der Wehrmacht kann in diesem Fall nicht zurückgegriffen werden, dort wurden damals "Feiglinge" kurzerhand erschossen.

Parallel zu diesen psychologischen Vorbereitungen läuft die Aufstellung von Spezialeinheiten, die Einrichtung von Ausbildungsplätzen sowie die Ausrüstung mit neu entwickelter Bewaffnung. Absolutes Schmuckstück wird dabei wohl das im Aufbau befindliche Kommando Spezialkräfte (KSK), das im Frühjahr den ersten Kommandozug mit 20 Mann einsatzbereit melden konnte. Zur Jahrtausendwende sollen 1 000 Mann, sprich vier Kommandokompanien und eine Fernspähkompanie, im wahrsten Sinne des Wortes überall auf der Welt eingesetzt werden können. Neben Fallschirmjägern, die mit Atemgeräten aus 8 000 Meter Höhe abspringen und Scharfschützen, die mit britischen Hochleistungsgewehren noch auf 800 Meter punktgenau treffen, werden in der Zeppelin-Kaserne in Calw selbst Spezialisten für den Kampf unter arktischen Bedingungen ausgebildet. Kosten allein für die Jahre der Aufstellung: 40 bis 50 Millionen Mark. Dazu spendiert die Hardthöhe ein eigenes Ausbildungs- und Versuchszentrum. Heeresinspekteur Helmut Willmann wünscht sich eine Eliteeinheit, "nicht vergleichbar mit irgend einer anderen Truppe" auf dieser Welt. Die Kommandotrupps sollen vor allem beim Kampf um Schlüsselinformationen in Krisen- und Konfliktgebieten eingesetzt werden, Kommandozentralen und Fernmeldeeinrichtungen im Hinterland des Gegners ausschalten.

Auf besonders gefechtsnahe Ausbildung legt künftig auch das Heer Wert. In einem sogenannten Gefechtsübungszentrum unweit von Magdeburg soll auf 23 000 Hektar 24 mal je Jahr ein verstärktes Bataillon mit kompletter Bewaffnung zehn Tage lang üben können. Gefechtsmäßiges Verhalten wird durch die Ausrüstung aller Waffen mit Lasern erreicht. Treffer mit Gewehr oder Kanone registrieren Sensoren, die auf Fahrzeugen, Helmen und Kampfanzügen angebracht werden. Unbestechlich zeigt ein Display Verwundung oder Materialschaden an. Später kann Fehlverhalten von Soldaten und Offizieren dank comutergestützter Aufzeichnung des Kleinkriegs genau ausgewertet werden. Eine halbe Milliarde Mark läßt sich das Heer dieses Schlüsselvorhaben kosten.

Das alles entspricht zwar ganz dem einst von General Naumann angemahnten Grundsatz "Train as you fight - Übe, wie du kämpfst", Krieg aber war noch nie ein Sandkastenspiel. Selbst Naumann sinnierte deshalb bei einer Kommandeurstagung in München, daß man "in manchen unserer denkbaren künftigen Einsätze" dann "brutalen Kriegern" gegenüberstehen könnte, "die sich nicht im geringsten um unsere fein ziselierten Regeln kümmern". Fein ziselierte Soldatenregeln - Humor hat er.