Des Kremls Vierte Gewalt

Iswestija - Der Ausverkauf der alten Zeitung ist die Geburtsstunde einer neuen

Der dreimonatige Konflikt in der Iswestija ist zuende. Kürzlich wählte die Mitarbeiterversammlung Wasili Sacharko zum neuen Chefredakteur. Am gleichen Abend wurde diese Entscheidung vom Direktorenrat der Aktiengesellschaft Iswestija abgesegnet. Offenbar ist der Rat mit Sacharkos Wahl zufrieden, denn vor der Versammlung hatten die neuen Eigentümer der traditionsreichen Zeitung, die Unexim-Bank und Lukoil, die Statuten geändert. Das letzte Wort bei der Ernennung des Chefredakteurs hatte ohnehin nicht mehr die Mitarbeiterversammlung, sondern der Rat der Direktoren.

Aus diesem Grund zog der bisherige Chefredakteur Golembiowskij seine Kandidatur einen Tag vor der Versammlung zurück. Die neuen Anteilseigner würden ihn unter keinen Umständen als Chefredakteur akzeptieren, eine Kandidatur sei deshalb zwecklos, begründete er sein Verhalten. Golembiowskij, der seit 1966 für die Iswestija arbeitet, wurde im August 1991 zum Chefredakteur gewählt. Die Zeitung unterstützte den Kurs von Boris Jelzin. In den folgenden Jahren kauften mächtige Finanz- und Wirtschaftsgruppen der russischen Hauptstadt die großen Zeitungen nacheinander auf. Schließlich blieb nur noch die Iswestija übrig, deren Chefredakteur den folgenden Prozeß ihres Ausverkaufs selbst mitbetrieb. Er beabsichtigte, die Zeitung wirtschaftlich zu retten, ahnte wohl aber noch nicht, in welchem Maße die neuen Herren Entgegenkommen erwarteten.

Zunächst verkauften die Mitarbeiter 41 Prozent der Iswestija- Aktien an die Gesellschaft Lukoil. Nach einem Bericht über das Millionenvermögen von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin drohte die Lukoil, ihre Investitionsvorhaben für die Zeitung auf Eis zu legen. Aus der Sicht von Lukoil war dies verständlich. Die russische Regierung besitzt 36 Prozent der Lukoil-Aktien. Wozu Nestbeschmutzer finanzieren?

Golembiowskij und der politische Kommentator Otto Lazis mobilisierten die ...ffentlichkeit. Es erschienen Solidaritätsaufrufe bekannter Künstler (u.a. Rostropowitsch) und Chefredakteure der Moskauer Zeitungen. In den Aufrufen hieß es, die Pressefreiheit in Rußland sei in Gefahr. Mit dem Erpressungsmanöver von Lukoil stehe eine der letzten unabhängigen Zeitungen Moskaus auf dem Spiel, erklärten die Iswestija-Redakteure. Golembiowskij analysierte, anstatt die Gesellschaft vor der Macht zu schützen, gebe es die Tendenz, daß die Massenmedien die Macht gegenüber der Gesellschaft stützten.

Nach den ersten schlechten Erfahrungen mit dem neuen Besitzer Lukoil fühlte sich der Chefredakteur zunehmend unwohl. Er suchte nach einem mächtigen Gegenpart und fand ihn in der Unexim-Bank. Deren Vizepräsident ist mit dem bekannten Iswestija-Unterstützer und Musiker Rostropowitsch bekannt und versprach der Redaktion freies Arbeiten. Mit Hilfe dieses Versprechens erwarb die Unexim-Bank 24,7 Prozent der Mitarbeiter-Aktien. Lukoil hatte seinen Anteil am Aktienpaket inzwischen auf 51 Prozent ausweitet. Die Unexim-Bank fand schnell eine gemeinsame Sprache mit den Leuten von Lukoil: Man wurde sich einig, daß Golembiowskij als Chefredakteur für die Zeitung nicht tragbar sei.

Dieser reagierte auf seine Weise. In der Zeitung erschienen neue Enthüllungen, diesmal über die Finanzmanipulationen der Stolitschnij-Bank, in die auch Vize-Premier Anatolij Tschubais verwickelt sein soll. Damit war das Maß aus der Sicht der neuen Besitzer voll. Am 3. Juli schickte der Direktorenrat der Aktiengesellschaft Iswestija Golembiowskij in Zwangsurlaub. Unter den Mitarbeitern kam es zu Gegenwehr. Sie gründeten eine Gewerkschaft (die es seit 1992 nicht mehr gegeben hatte) und setzten sich zum Ziel, die an die Unexim-Bank verkauften Aktien zurückzukaufen. Doch die neuen Machthaber lächelten nur müde. Sie hatten die Machtverhältnisse bereits zu ihren Gunsten geregelt und konnten in Ruhe den Tag der Mitarbeiterversammlung abwarten.

Der Traumkandidat der neuen Besitzer, Andrej Illesch, Programmleiter bei REN-TV, konnte sich bei der Abstimmung am 18. Juli nicht durchsetzen. Er landete auf dem vierten Platz. 178 der anwesenden 206 Mitarbeitern gaben ihre Stimme dem bisherigen stellvertretenden Chefredakteur, Wasilij Sacharko. Vor der Abstimmung mußte einer der zehn Kandidaten aus formalen Gründen von der Liste gestrichen werden: Vize-Premier Tschubais. Einige Mitarbeiter hatten ihn auf die Liste gesetzt, um zu zeigen, wer hinter der Übernahmeaktion bei der Iswestija steckt. Golembiowskij hat es offen ausgesprochen: Tschubais ist der Hauptverantwortliche für die Übernahme der Zeitung. Die Aktion sei Teil eines Plans, mit dem sich die Mächtigen die Zustimmung der Massenmedien für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 sichern wollen. "Die Finanz- und Machtoligarchie versucht, praktisch alles unter ihre Kontrolle zu bekommen", erklärte Golembiowskij.

Der neue Chefredakteur Sacharko arbeitet seit 1972 bei der Iswestija, seit 1987 in leitender Stellung. Am Tag vor der Mitarbeiterversammlung hatte er es abgelehnt, eine Stellungnahme Golembiowskijs zu veröffentlichen. Er werde alles tun für "ein System zivilisierter Partnerschaft" zwischen Redaktion und Aktionären, erklärte der neue Chef. Als Sacharko nach seiner Ernennung befragt wurde, ob die Zensur bestimmter Berichte fortgesetzt werde, erwiderte er: "Zensur hat es nicht gegeben." Außerdem deutete er an, daß bei der Iswestija das recherchierte Material in der letzten Zeit "nicht rein professionell" bewertet worden sei.

Golembiowskij ist inzwischen klar, daß der Ausverkauf der Zeitung an fremde Eigentümer falsch war. Auf einer Pressekonferenz erklärte er, der Hauptfehler sei gewesen, daß man der Unexim-Bank erlaubt habe, die Aktien der Mitarbeiter zu kaufen. "Man hätte einen Kredit aufnehmen und es selbst machen müssen." Doch in Rußland eine überregionale Tageszeitung ohne Geldgeber auf die Beine zu stellen, scheint ein aussichtsloses Vorhaben. Golembiowskij, der für den Herbst mit dreißig Kollegen ein neues Zeitungsprojekt namens Novaja Iswestija plant, schaut sich schon jetzt nach potenten Unterstützern um. Erste Kontakte wurden mit dem Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow geknüpft.Der hofft offenbar, daß ihm diese Zeitung bei seinen Plänen in Bezug auf die russische Präsidentschaft behilflich sein könnte.