Sonntag, 05.09.2021 / 15:04 Uhr

Pneu à Pneu

Von
Jörn Schulz
Schweiz

Die Luft ist raus. Das betrifft natürlich nicht die Produktion dieser Auslandsausgabe, da wir uns von kleinen Widrigkeiten nicht aufhalten lassen. Aber wir haben bereits die zweite Reifenpanne auf dieser Reise zu verzeichnen. Kurz vor Zürich setzte erneut eine Felge auf, der Wagen musste abgeschleppt werden und wartet nun, hoffentlich reumütig, vor dem Pneuhaus auf den Beginn der Arbeitswoche. Das verzögerte unsere Ankunft erheblich, wir kamen gerade noch rechtzeitig zu unserer Verabredung, ohne uns vorher noch Stadt und Museen anschauen zu können. Bekanntlich suchen wir bei jeder Auslandsreise die örtliche aufgeklärte radikale Linke heim, um uns aus erster Hand über den Stand der Dinge in Sachen Klassenkampf, sozialer Emanzipation und Wahl der besten Biermarke zu informieren. Das Picknick auf einer Wiese brachte dann auch die ob der am Rand der Autobahn verlorenen Stunden etwas Frustrierten wieder in bessere Stimmung. Nun wissen wir auch schon mehr über die Widersprüche und dunklen Seiten.

Die finden sich zuweilen dort, wo man sie nicht unbedingt erwarten würde. So mag das Bimmeln der Kuhglocken dem Unwissenden lieblich oder romantisch erscheinen. Aber sehen die Kühe das auch so? Ein Team der ETH Zürich hat es mit drei Gruppen von Versuchstieren ausprobiert; einige Kühe trugen die übliche, einige eine „stille“ und einige gar keine Glocke. Das Fazit: „Durch das Tragen der Glocke, ob funktional oder nicht, verkürzte sich während der drei Messtage die Wiederkauzeit und Fressdauer frappant.“ Das könnte am Gewicht liegen (in diesem Fall 5,5 Kilogramm), aber der Sound ist nicht zu unterschätzen: in einer Distanz von 20 Zentimetern 90 bis 110 Dezibel, das ist die Lautstärke eines Presslufthammers. Was übrigens, wie auch einer in unserem Domizil Wohnender beklagte, Menschen in unmittelbarer Nähe ausdauernd bimmelnder Kühe nerven kann.

Damit nicht genug: Die Kuhglocke ist ein Nationalsymbol, und zwar eines, das offenbar vornehmlich von jenen genutzt wird, die Friedrich Engels einst als Angehörige „brutaler und bigotter Bergstämme, die sich störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen“ bezeichnete. Kuhglockenkritik kann die Einbürgerung verhindern, da man dieser unwürdig ist, wenn „solche ‚über Jahrhunderte gewachsene Werte‘ lautstark bekämpft werden“ – der Aargauer Regierungsrat gab allerdings in diesem Fall der Beschwerde gegen die Einbürgerungsverweigerung statt. Bei einer Demonstration von Coronaleugnern und Impfgegnern in Chur, die ein Redakteur beobachtete, diente die Kuhglocke neben der Armbrust als Symbol für den autochthonen „Kampf der Rohheit gegen die Bildung, der Barbarei gegen die Zivilisation“, um noch einmal Engels zu zitieren.

Engels hielt wenig vom Schweizer nation building. Aber wäre die Welt wirklich ein besserer Ort geworden, wenn die Habsburger Ritter damals etwas umsichtiger gewesen und den Bergbauern nicht in die Falle gelaufen wären? Vermutlich sollte man die Kuhglockenkultur dialektisch betrachten, mal sehen, was dabei herauskommt.