Im Film »May December« bringt eine Schauspielerin eine dysfunktionale Familie durcheinander

Kleine Risse im Bild

In »May December« seziert Regisseur Todd Haynes eine Beziehung zwischen der älteren Gracie und ihrem viel jüngeren Partner Joe. Als die Schauspielerin ­Elizabeth auftaucht, beginnen die Protagonisten, in ihre eigenen Psychodynamiken einzutauchen.

Die Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) reist in den US-Bundesstaat Georgia, um sich auf eine Rolle in einem Independent-Film vorzubereiten. Sie soll Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) verkörpern, die mehr als zwei Jahrzehnte zuvor im Mittelpunkt eines Medienskandals stand, weil sie, damals 36 Jahre alt, ihre Familie für den 13jährigen Schüler Joe Yoo (Charles Melton) verließ. Gracie ging dafür ins Gefängnis, wobei sie bereits schwanger von Joe war. Nach ihrer Entlassung traf sie sich weiterhin mit dem Jugendlichen, die beiden blieben ein Paar. Nun ist Gracie eine ältere, attraktive Frau, ihr Ehemann Joe ein junger Erwachsener. Die beiden bereiten sich auf den Auszug ihrer Zwillinge vor, die kurz vor dem High-School-Abschluss stehen.

Da diese Geschichte auf einem ­realen Fall basiert, beschäftigt sich Todd Haynes’ neuer Film »May ­December« mit gleich drei Verhältnissen: dem des Schauspiels und des Dargestellten, dem der Fiktion und der erzählerischen Realität innerhalb des fiktionalen filmischen Werks, sowie dem des Films zur ­Realität. Aus dieser grundlegenden Doppelbödigkeit speist sich eine ­besondere Intensität des Films, der auch im Detail von den Zwischen­tönen und Andeutungen, letztlich von der Rätselhaftigkeit des Lebens selbst lebt – von der Unmöglichkeit, den Einzelnen und seine Geschichte erschöpfend zu begreifen.

»May December« erzählt seine von Ambivalenzen durchsetzte Geschichte mit langsamer Intensität und verzichtet auf eine klare moralische Position. Todd Haynes gibt den Charakteren stattdessen die Zeit und den Raum, sich in ihren Widersprüchen zu entfalten.

Als Elizabeth bei der großzügigen Villa der offenbar wohlhabenden Familie ankommt, empfängt Gracie sie zunächst eher kühl. Sie lässt sie warten und bemerkt, im Fernsehen wirke sie größer. Es sind nuancierte Gehässigkeiten wie diese, die eine Ahnung davon vermitteln, mit welcher Gewalt sie die Beziehung zu Joe zusammenhält. Ihm gegenüber verfällt sie immer wieder in den Tonfall einer passiv-aggressiven Mutter, der die Trinkerei und das nerdige Hobby des »Sohns« zuwider sind. Denn Joe züchtet Schmetterlingsraupen, über deren Entwicklung er sich mit einer Internetbekanntschaft austauscht – dies scheint seine einzige Verbindung zu jemandem zu sein, den die missbräuchliche Grundlage seiner Beziehung zu Gracie nicht zu sehr stört.

Elizabeth trifft sich im Folgenden mit Weggefährten der beiden, um sich auf ihre Rolle vorzubereiten. Da ist Gracies Ex-Mann, der recht abgeklärt von dem Skandal spricht, der für ihn jedoch damals völlig überraschend gekommen sei. Da ist ein Sohn aus dieser ersten Ehe, der seinerzeit ein guter Freund von Joe gewesen ist. Er meint, der Skandal habe sein Leben ruiniert, will sich aber nicht als traumatisiert verstanden wissen.

Und da ist der Polizist, der Gracie damals festnahm. Er spricht offen an, dass Gracie offenbar zu keiner Zeit ein Unrechtsbewusstsein entwickelt habe. Außerdem enthüllt er, dass hinter Gracies vermeintlich erfolgreichem Geschäft mit besonders aufwendigen Torten ein kleiner, treuer Kundenstamm aus dem Bekanntenkreis stehe, der das Paar aus pikierter Höflichkeit mit teuren Abonnements über Wasser halte – ein treffendes Bild für ein vermeintlich tolerantes Upper-Class-Milieu, das sich Gracies Verdrängungsleistung lieber zu eigen macht, als den Konflikt zu suchen, der unter der glatten Vorstadt-Oberfläche zur Austragung drängt.

Elizabeth taucht immer tiefer ein in diese kleine Welt. Sie erfährt von einem möglichen Missbrauch Gracies durch ihren älteren Bruder, den diese aber genauso zu verleugnen scheint wie das Machtgefälle in ihrer Beziehung zu Joe. Bald identifiziert sie sich so sehr mit Gracie, dass auch in ihr ein Begehren für Joe erwacht. Die beiden schlafen miteinander, woraufhin Joe beginnt, sich zu fragen, ob er damals wirklich alt genug war, sich für eine Beziehung mit Gracie zu entscheiden. Als er sie schließlich mit dieser Frage konfrontiert, reagiert Gracie mit gekränkter Verzweiflung und kalter Härte. In Verdrehung der Tatsachen wirft sie ihm vor, er habe sie verführt und die ganze Zeit über die Kontrolle über die Beziehung gehabt.

»May December« erzählt diese von Ambivalenzen durchsetzte Geschichte mit langsamer Intensität und verzichtet auf eine klare moralische Position. Todd Haynes gibt den Charakteren stattdessen die Zeit und den Raum, sich in ihren Widersprüchen, ihren verdrängten Zweifeln und ihrem Triebschicksal zu entfalten. Immer wieder ist es die beunruhigende klavierlastige Musik von Marcelo Zarvos und Michel Legrand, die erfahrbar werden lässt, was hier unter der Oberfläche des ungewöhnlichen, aber doch erfüllt scheinenden Familienglücks brodelt. Dass der große Ausbruch ausbleibt und nur kleine Risse an diesem Bild sichtbar werden, tut dieser Intensität keinen Abbruch, sondern steigert diese im Gegenteil zu einer geradezu existentiellen Beklemmung.

An dieser hat auch das herausragende Spiel der Hauptdarsteller einen großen Anteil. Julianne Moore spielt die stets um Normalität und Freundlichkeit bemühte Gracie mit einnehmender Anspannung. In ihren Höflichkeiten steckt zuweilen eine subtile Grausamkeit, die ihr gar nicht bewusst zu sein scheint. So lobt sie in einer Szene ihre Tochter für den Mut, ein armfreies Kleid anzuprobieren und sich nicht um unrealistische Schönheitsideale zu kümmern. Gegenüber Joe tritt sie manipulativ, doch nicht offen aggressiv auf. Seinen Zweifeln an der Beziehung begegnet sie mit Liebesentzug, immer wieder lässt sie sich von ihm bemuttern und trösten, etwa als ein langjähriger Kunde sein Torten-Abonnement kündigt und sie dadurch offenbar ihre ganze Existenz in Frage gestellt sieht.

Auch Charles Melton spielt den ödipal verstrickten Joe auf bemerkenswerte Weise. Seine versunkene Körperhaltung und seine unsichere Artikulation vermitteln das Bild eines nur körperlich Erwachsenen, in dem alles nach einer Entwicklung drängt, die durch eine ungreifbare Macht verstellt scheint. Diese Disposition spiegelt sich in seiner hingebungsvollen Beschäftigung mit den Schmetterlingslarven. Als er mit Elizabeth eine sexuelle Erfahrung unter Gleichaltrigen auf Augenhöhe macht und anfängt, die Beziehung zu Gracie vorsichtig in Frage zu stellen, beginnen auch die Raupen zu schlüpfen. Seine Stimme wird fester und sein Auftreten gewinnt den Vorschein ­einer gewissen Souveränität, auch wenn es letztlich unklar bleibt, ob er sich wirklich von Gracie emanzipiert.

Und auch das Spiel Natalie Portmans, die den Film mit produzierte, ist hervorzuheben. Tritt sie anfangs selbstsicher, aufgeschlossen und interessiert auf, bemächtigt sich die Rolle der Gracie ihrer im Verlauf der Handlung auf eine subtile, abgründige Weise. Exemplarisch dafür steht eine Szene, in der sie die Haustierhandlung besucht, in der die Affäre zwischen Gracie und Joe ihren Anfang nahm. Sie bittet darum, den Hinterraum alleine besichtigen zu dürfen, und wird übermannt von dem verbotenen Begehren, dem das Vorbild ihrer Rolle hier einst erlag. Eliza­beths schauspielerische Herangehensweise versinnbildlicht so das Programm des ganzen Films, der einem Fall von missbräuchlicher Grenzüberschreitung nicht mit moralischer Verurteilung, sondern dem Eintauchen in die Psychodynamik seiner Protagonisten begegnet.

May December (USA 2023). Buch: Samy Burch. Regie: Todd Haynes. Darsteller: ­Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton