Was der Vater malte

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Bomben auf dem Bild

»Klaus, wo ist denn das Bild, das hier immer hing?« fragte ich meinen Bruder, als ich ihn zuletzt besuchte. Das Aquarell hatte immer im Flur unseres Elternhauses gehangen. »Ich glaube, das ist auf dem Dachboden«, antwortete mein Bruder. Vor Jahren hatten seine Frau und er renoviert, sich neu eingerichtet und vieles aussortiert.

Wir fanden das Gemälde auf dem Dachboden in einer Kiste mit anderen Bildern, meist Reproduktionen von kitschigen Landschafts­gemälden. Das Bild, das ich suchte, ist das einzige, das mein leiblicher Vater gemalt hat. Es ist auch das einzige Original, das in meiner Kindheit präsent war.

Wie so vieles, an das man gewöhnt ist, hatte ich das Bild nie genau betrachtet.

Ich habe in meinem Leben sehr viele Bilder gemalt und gezeichnet, aber woher diese Neigung kommt, wusste ich nicht immer ganz genau. In unserer Familie wird man Ingenieur und Ingenieurin, aber nicht Künstler. Das Bild ist der einzige Hinweis auf eine musische Neigung in meiner Familie. Mein Bruder verpackte es vorsichtig, und so brachte ich es nach Berlin.

Ich hatte das Aquarell in meiner Kindheit oft gesehen und es immer als seltsam empfunden, dass dieses abstrakte Bild sich in unserem ansonsten so gar nicht modernen Leben befand. Wie so vieles, an das man gewöhnt ist, hatte ich das Bild nie genau betrachtet. Jetzt putzte ich zuerst das Glas und den Rahmen. Danach nahm ich das Bild heraus und guckte, ob es auf der Rückseite signiert oder datiert war. War es nicht.

Als ich es wieder eingerahmt hatte und es kopfüber stand, fiel mir plötzlich etwas auf, das ich noch nie bemerkt hatte. Aufgeregt rief ich am Abend meinen Bruder an: »Klaus, ich sehe was, was du nicht siehst! Ich schicke dir gerade bei Whatsapp Fotos von dem Bild, auch ein paar Vergrößerungen. Guck mal, was du auf dem Bild siehst? Ich weiß jetzt schon, das du das Bild nachher nie wieder anders sehen kannst, aber guck mal, was du erkennst. Ich rufe dich in einer halben Stunde wieder an.«

Als mein Bruder kurze Zeit später anrief, sagte er: »Es sieht so aus, als würden Bomben fallen.«

»Wenn es 100 Bilder gäbe, könnte ich sagen, die anderen 99 mag ich schon, aber das eine nicht. Aber so?«

»Ich sehe noch mehr«, antwortete ich. »Die schwarzen Striche sehen wie Straßen aus. Die Binnenzeichnung zwischen den Strichen sieht aus wie ein Straßennetz, oder Felder. Das Bild sieht überhaupt nicht mehr abstrakt aus, sondern wie ein Foto, das von einem Flugzeug aus gemacht wurde, das Bomben abwirft. Diese weißen Stellen, die wie Detonationen aussehen, sind mit einer Nass-in-nass-Technik gemacht. Dabei wird zuerst ein nasser Untergrund gelegt und dieser dann mit dem nur leicht feuchten Pinsel und sehr viel Pigment leicht benetzt. Die Farbe ›explodiert‹ dann regelrecht auf dem Papier. Weil das Papier nicht sehr gut ist und die Farbe auch nur einfache Wasserfarbe, ist der Effekt nicht so stark, aber wir erkennen doch, was gemeint ist. Das ist entweder der Versuch, die Erlebnisse unseres 13jährigen Vaters 1945 auf der Flucht aus Schlesien zu verarbeiten, oder die seines Vaters im Zweiten Weltkrieg als Offizier bei der Luftwaffe. Hast du irgendwann vorher schon mal gedacht, dass das Bild Bomben zeigt, wenn du es angesehen hast?« fragte ich meinen Bruder. »Nein, das ist mir noch nie aufgefallen«, antwortete er.

Leider wissen wir nicht mehr. Wir haben unseren leiblichen Vater nie kennengelernt. Er wurde 1932 geboren und starb 1967 mit 35 Jahren an Leukämie. Mein Bruder wurde erst nach seinem Tod geboren und erhielt in seinem Angedenken seinen Namen: Klaus. Ich weiß noch nicht, wo ich das Bild aufhängen werde.

Julia findet es richtig scheiße. Wegen den Bomben und dem Krieg. Als ich mich darüber beschwerte, dass sie es so ablehnt, fragte sie: »Wie findest du denn das Bild?« Ich antwortete: »Ich habe doch gar keine Wahl. Wenn es 100 Bilder gäbe, könnte ich sagen, die anderen 99 mag ich schon, aber das eine nicht. Aber so? So muss ich es mögen, weil es das einzige ist.«