Besuch beim linken Festival »No Limit« in Tokio

Wenn Faschismus kein Limit ist

Vom 22. September bis zum 1. Oktober fand im Tokioter linksalternativen Szeneviertel Kōenji die dritte Ausgabe des asienweiten Festivals »No Limit« statt. Die Mischung aus Hedonismus und linksautonomer Politik war zwar ein kräftiges Lebenszeichen antiautoritärer Gruppen Ostasiens, offenbarte jedoch auch fundamentale politische Widersprüche, die vor allem die japanische Linke seit Jahrzehnten plagen.

Rufe gegen Gentrifizierung mischen sich unter Forderungen für ein Bleiberecht für Asylwerber und Parolen gegen die Polizei. Die Abschlussdemonstration des Festivals »No Limit« zieht so mit etwa 200 Personen und drei Lautsprecherwagen seit Stunden durch Tokios linksalternativen Stadtteil Kōenji. Es geht nicht nur um ein Bündel an klassisch linken Forderungen, die augenzwinkernd unter dem Motto »Demo gegen alles!« zusammengefasst wurden, sondern auch um die aktive Rückeroberung öffentlichen Raums.

Wie sehr dieser in Japan mittlerweile reglementiert ist, sieht man an der Reaktion der Polizei. Diese ist mit zwei Dutzend in Zivilkleidung agierenden Damen und Herren der sogenannten Sicherheitspolizei vertreten, die in etwa dem deutschen Verfassungsschutz entspricht. Hinzu kommen mehrere Dutzend uniformierter Beamter, die peinlich genau darauf achten, dass die Demonstranten den ihnen zugesagten Fahrstreifen nicht übertreten, und sie unentwegt lauthals anschreien, sie möchten doch zügig weitergehen. Die meisten der Demonstranten, davon nicht wenige aus nahegelegenen Staaten wie China, Taiwan oder Südkorea, ignorieren die Anweisungen der Polizei. Punkbands spielen, DJs legen auf. Es ist eine antikapitalistische Party auf den Straßen Tokios.

Demo-Paraden wie diese gehören mittlerweile schon zur Folklore Kōenjis. Internationale Aufmerksamkeit erregte die dortige Szene im Jahre 2011, als sich nur wenige Wochen nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima über 10.000 Menschen an einer Anti-AKW-Demonstration beteiligten und somit den Startschuss für eine neue Welle zivilgesellschaftlichen und linken Engagements in Japan gaben.

Die Gipfelhopper
Doch gehen die Ursprünge des Festivals »No Limit« noch etwas weiter zurück, nämlich auf die Proteste gegen den G8-Gipfel in Japan im Jahr 2008. Diese bezeichnete der Forscher und Aktivist Kenichiro Egami bei einer Einführungsveranstaltung zu Beginn des Festivals als »Wendepunkt« für die japanische und im weitesten Sinne ostasiatische autonome Linke, schließlich kam dafür erstmals eine Vielzahl an Aktivisten vor allem aus westlichen Ländern nach Japan. Angesichts »soziopolitischer Unterschiede«, so Egami, sei es während des Gipfels jedoch zu Reibereien zwischen westlichen und japanischen Akti­vist:in­nen gekommen. Insbesondere ging es um die Frage politischer Militanz, die in Japan kaum noch existent ist, für westliche Gipfelhopper mit in Genua, Heiligendamm und anderswo gesammelter Straßenkampferfahrung jedoch zum üblichen Repertoire zählte.

Die 2008 gesammelten Erfahrungen praktischer internationaler Solidarität bewogen Aktivisten aus Japan und anderen Teilen Ostasiens jedoch zu verstärkter internationaler Zusammenarbeit. Der Hongkonger Künstler und Aktivist Chun Fung Lee betonte zudem die Bedeutung der Demokratieproteste in Hongkong 2014, die zumindest anfangs in Form der »Occupy Central«-Bewegung maßgeblich von undogmatischen, antiautoritären Linken getragen wurden.

»No Limit« in Tokio, Seoul und Jakarta
Als Kristallisationspunkt dieser Zusammenarbeit wurde 2016 in Tokio das erste »No Limit«-Festival abgehalten, in den Jahren danach fungierten Seoul und Jakarta als Austragungsorte, Wegen der Covid-19-Pandemie musste dann eine Pause eingelegt werden. Egami und Lee betonten, das Netzwerk sei in seiner politischen Ausrichtung noch »schwammig« und in Entwicklung, man habe jedoch bewusst entschieden, sich an den Lebensumständen ostasiatischer Länder zu orientieren und eigene Wege zu gehen, anstatt bloß westliche Modelle des politischen Aktivismus zu kopieren.

Davon zeugte auch eine Vielzahl an Veranstaltungen während des jüngsten »No Limit«-Festivals. Die Palette reichte von feministischen Vernetzungsplena über Fotoausstellungen über die Demokratiebewegung in Hongkong bis zu Theatervorführungen und Punkkonzerten mit Bands aus verschiedenen Ländern Ostasiens. Der aus westlicher Sicht womöglich etwas verstörende Verzicht auf klare politische Positionen und die starke Gewichtung von Kunst erklärt sich mit den repressiven Verhältnissen, unter denen vor allem chinesische Aktivisten leben, die einen bedeutenden Anteil des antiautoritären Netzwerks stellen, das bei »No Limit« gefeiert wurde. So erzählte ein auf eigenen Wunsch anonym auftretender chinesischer Aktivist aus China auf einer Podiumsdiskussion, wie man sich in öffentlichen Parks mit Gleichgesinnten zu gemeinsamen Kung-Fu-Übungen trifft, da dies eine der wenigen legalen Möglichkeiten sei, im öffentlicher Raum Präsenz zu zeigen.

Punkkonzert im autonomen Zentrum TKA4

If the Kids are united … Punkkonzert im autonomen Zentrum TKA4

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Gregor Wakounig

Auch in Japan selbst kann linker Aktivismus zu harter Repression führen, erkennbar etwa an der seit Jahren weitverbreiteten Praxis der Exmatrikulation linker Student:innen, deren einziges Vergehen es ist, sich öffentlich zur Mitgliedschaft in einer linksradikalen Gruppe zu bekennen. Früher galten japanische Universitäten mit ihren eh­e­mals in die Hunderte gehenden autonom verwalteten Studentenheimen und weiteren Freiräumen als Brutstätte linksradikaler Politik und Gegenkultur. Doch haben neoliberale Bildungsreformen und die damit verbundenen polizeilich durchgesetzten Räumungen autonomer Freiräume auf den Campus dazu geführt, dass ein Großteil der Szene in Kneipen, Infoläden und autonomen Zentren einen Neuanfang versuchte, der jedoch keineswegs den Umfang erreicht hat, den man von den Campus gewohnt war.

Dass die Zerschlagung der japanischen linken Studentenbewegung unter vergleichsweise wenig Widerstand vonstatten ging, hatte auch mit patriarchalen, autoritären Strukturen innerhalb der Bewegung zu tun. Orthodox kommunistische Sekten, in deren Reihen kaum Frauen zu finden waren, gingen hart gegen tatsächliche oder vermutete politische Abweichler vor. Diese innerlinken Flügelkämpfe kosteten bis in die neunziger Jahre über 100 Menschen das Leben und zementierten in der japanischen Öffentlichkeit das Bild, dass linkspolitische Betätigung lebensgefährlich sei. Kein Wunder also, dass die Anzahl der Aktiven stetig abnahm.

Aufstand der Amateure
Die Szene in Kōenji versucht jedoch, einen anderen Zugang zu linksautonomer Politik zu finden. Die treibende Kraft dahinter ist die Gruppe »Aufstand der Amateure« (Shirōto no Ran), deren Wortführer Hajime Matsumoto seinen politischen Werdegang in den Neunzigern unter anderem damit begann, prekär lebende Studenten im Sinne einer Spaßguerilla zu organisieren. Diese Organisationsform mit zu Humor und Hedonismus als Stützpfeilern des Aktionsverständnisses unterschied sich stark von den straff organisierten, auf Demonstrationen uniform behelmt auftretenden Studentengruppen, in deren Pamphleten wöchentlich erfolglos ­zu Generalstreik und Weltrevolution aufgerufen wurde.

Demonstrant gegen die Lohnarbeit

Bier statt Maloche. Demonstrant gegen die Lohnarbeit

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Gregor Wakounig

Die Verweigerung des kapitalistischen Lohnarbeitslaufrads sowie eine bewusste Selbstbezeichnung als Manuke (Trottel) oder Dame ningen (Nichtsnutz) dient der Japanologin Julia Obinger zufolge, die 2013 eine Dissertation über den »Aufstand der Amateure« veröffentlichte, zum einen der »Autoexklusion« aus dem japanischen Mainstream und zum anderen als Ermächtigungswerkzeug, um Lebensweisen zu finden, die sich von japanischen Normalbiographien unterscheiden. Es geht also vordergründig weniger um das hehre Ziel der Revolution als vielmehr darum, nicht den Weg der Achtundsechziger-Generation zu gehen, deren ehemals Aktive oftmals zu einem bürgerlichen Lebensstil mit gutbezahlten Stellen gefunden haben.

»Verräter« nannte Hajime Matsumoto solche Menschen spöttisch bei einer Podiumsdiskussion während des »No Limit«. Diese wurde unter dem Motto »Aufeinanderprallen der weltweiten Faulenzer-Bewegungen« abgehalten und vereinte Aktivisten aus China und Japan. Der Bezugsrahmen war vor allem die chinesische Tang ping-Kultur, die 2020 in China ihren Anfang nahm. In einer Reihe von unter dem Pseudonym Luo Huazhong (»Gutherziger Reisender«) veröffentlichten Texten ruft der Autor dazu auf, sich dem kapitalistischen Lohnarbeitswettbewerb zu verweigern und stattdessen tang ping, auf Deutsch: einfach liegenzubleiben. Die Kommunistische Partei Chinas ging von Anfang an gegen die Tang ping-Kultur vor, trotzdem hat es das Konzept mittlerweile auch in den Mainstream-Diskurs geschafft.

Die Querfront
Während die chinesischen Aktivisten darüber berichteten, wie sie der Repression trotzen und politisch durchaus fundiert auf weitere Probleme wie die Unterdrückung von LGBT-Personen zu sprechen kamen, offenbarte sich im Laufe der Diskussion eine der großen Schwächen der japanischen Linken, nämlich die Querfront. Neben den chinesischen Aktivisten saßen auf dem Podium nämlich auch Koichi Kaminaga, ­Veteran der vor allem in den Neunzigern aktiven Gruppe Dame-ren (Allianz der Nichtsnutze), sowie junge Aktivisten verschiedener Dame-life (Nichtsnutzleben) genannter Gruppen, die seit einigen Monaten japanweit auf verschiedenen Uni-Campus aktiv sind. Dabei handelt es sich um eine durchaus heterogene Strömung, bei der Widerstand gegen Leistungsdruck und gegen kapitalistische Vereinzelung im Vordergrund steht.

Zwar finden sich in den Dame-life-Gruppen auch einige wenige Linke mit einem klar antifaschistischen Politikverständnis, die meisten stammen jedoch aus dem Umfeld des Faschisten Kōichi Toyama. Dieser war bis in die neunziger Jahre mit zahlreichen provokativen Aktionen einer der schillerndsten Vertreter der japanischen radikalen Linken, bis er, enttäuscht von ihr, eine ideologische Konversion zum Faschisten vollzog. Trotzdem bewegt sich Toyama in der japanischen Linken bis heute wie ein Fisch im Wasser, veröffentlicht regelmäßig Texte in linken Publikationen und wird von vielen Linken als eine Art Performer oder Klassenclown verharmlost, der es in Wirklichkeit ganz gut meine.

Auch Hajime Matsumoto, langjähriger anarchistischer Weggefährte Toyamas, verteidigte ihn auf der Podiumsdiskussion, als die Frage gestellt wurde, wie man denn eine internationale Bewegung auf die Beine stellen wolle, wenn man gleichzeitig mit Faschisten kooperiert. Toyama meine es gar nicht so, sein Faschismusgehabe mache ihn aber vor allem vor Aktivisten aus dem Ausland nicht wirklich präsentabel, so Matsumoto.

Eine der wenigen Antifa-Fahnen, die beim Festival zu sehen waren

Klar positioniert. Eine der wenigen Antifa-Fahnen, die beim Festival zu sehen waren

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Gregor Wakounig

Dabei reicht schon ein Blick auf To­yamas Texte, gespickt mit romantischer Verklärung eines angeblich »reinen« und »unverstandenen« Frühfaschismus aus der Zeit vor den 1920ern und gepaart mit rabiatem Antifeminismus, um zu sehen, dass sein Gerede vom Faschismus keine bloße Parodie oder Provokation ist, sondern er es ernst meint. Davon zeugen auch zahlreiche von Toyama gemeinsam mit Vertretern der japanischen extremen Rechten veranstaltete Events.

Querfrontbestrebungen innerhalb der japanischen Linken existieren seit langer Zeit. Schon 1969 lud der japanweite Verband linksautonomer Studentengruppen Zenkyōtō den faschistischen Autor und späteren Terroristen Yukio Mishima zu einer Podiumsdiskussion auf die Universität Tokio, nur wenig später waren Untergruppen seiner Tate no Kai (Schildgesellschaft) genannten Privatmiliz beispielsweise in der Zen­kyōtō-Gruppe der Tokioter Universität Waseda aktiv.

Bis heute gibt es insbesondere in sich als antiautoritär-links verstehenden Gruppen regelmäßige Kooperationen mit der Issuikai, einer Nachfolgeorganisation von Mishimas Tate no Kai, die in Japan regelmäßig Kongresse mit Vertretern rechtsextremer Parteien aus der ganzen Welt veranstaltet. Aus Deutschland waren beispielsweise Vertreter der NPD zu Gast, aus Österreich der FPÖ-Politiker Andreas Mölzer. Die Gründe für diese Kumpanei mit der extremen Rechten sind mannigfaltig, können im Groben aber auf den gemeinsamen Nenner des Antiamerikanismus heruntergebrochen werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Festival »No Limit« seit mehreren Jahren Raum für wichtige Vernetzungsarbeit für eine antiautoritäre, autonome Linke bietet. Insbesondere für Aktivisten aus China und Hongkong ist es einer der wenigen Orte in Ostasien, wo sie keine Repression fürchten müssen und auf bereits vorhandene linke Infrastruktur zurückgreifen können. Politische Widersprüche wie die erwähnten Querfrontbestrebungen werden sich jedoch nicht auf Dauer hinter einer Wand aus Hedonismus verstecken lassen. Wahrscheinlich lässt sich dieses Problem jedoch nicht alleine durch ein jährliches Festival lösen.

Das nächste »No Limit«-Festival soll 2024 in Taiwan stattfinden. Man wird sehen, ob und gegebenenfalls wie eine Diskussion über die Querfront dann vorangekommen ist.