Nachruf auf den Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch

Wie das Sexuelle spricht

Immer auf der Seite der Abweichenden: zum Tod des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch.
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Es gibt keinen anderen Sexualwissenschaftler, der es in den vergangenen 50 Jahren geschafft hat, so umfassend wie Volkmar Sigusch die Transformationen der Sexualität in der Spätmoderne zu beschreiben. Nun ist der emeritierte Professor der Sexualwissenschaft und ehemalige Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main am 7. Februar im Alter von 82 Jahren verstorben. Er hinterlässt nicht nur 51 Bücher und mehr als 850 wissenschaftliche Veröffentlich­ungen, sondern vor allem auch einen einzigartigen analytischen Zugang zu seinem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. Kategorisch zu trennen in den mess- und zählbaren Sex, das unbewusst aufgeladene Sexuelle und eine allgemein-neutrale Sexualität, das war Siguschs Sache nicht. Zu rigide begriffliche Setzungen tendieren seiner Auffassung zufolge dazu, das Unkalkulierbare an der Sexualität zu vernachlässigen und den Boden für das vermeintlich Faktische zu bereiten.

1940 im brandenburgischen Bad Freienwalde geboren, flüchtete er mit 21 im Jahr des Mauerbaus aus der DDR. Ausgebildet wurde Sigusch von den beiden Gründungsfiguren der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, deren Erbe er antrat. Zeit seines akademischen Lebens beschäftigte ihn eine Frage, die er im Zentrum jeder Sexualforschung sah: Wie dringt Gesellschaft in das Sexuelle ein und spricht aus ihm? Sigusch entwarf diese Fragestellung in »Die Mystifikation des Sexuellen« (1984), indem er eine bis dahin in dieser Form ausgebliebenen Verbindung zwischen der Marx’schen Warenanalyse und der Theorie der menschlichen Sexualität zog. Den im »Kapital« beschriebenen Fetischcharakter der Ware nimmt der Autor zum Anlass, auf zwei Aspekte der modernen Sexualität aufmerksam zu machen: Sie entstehe mit der Durchsetzung des Kapitalismus und sei somit auch nicht ohne das Kapitalverhältnis zu denken, aber sie werde nicht unmittelbar selbst zur Ware, wie es damals gern in emanzipatorischen Kreisen behauptet wurde – kennzeichnet die Ware nach Marx doch die Umarbeitung eines Naturstoffs, damit er ein menschliches Bedürfnis befriedigt, und so stelle es sich bezogen auf Sexualität nicht dar.

Ohne Foucaults Diskurs- oder auch Luhmanns Systemtheorie gänzlich unberücksichtigt zu lassen, blieben Siguschs zentrale theoretische Bezugspunkte doch die Kritik der politischen Ökonomie, die Kritische Theorie und nicht zuletzt die Psychoanalyse.

Ohne Foucaults Diskurs- oder auch Luhmanns Systemtheorie gänzlich unberücksichtigt zu lassen, blieben doch die zentralen theoretischen Bezugspunkte der von Sigusch entworfenen Kritischen Sexualwissenschaft die Kritik der politischen Ökonomie, die Kritische Theorie und nicht zuletzt die Psychoanalyse. Gerade mit der Freud’schen Sexualtheorie hält Sigusch noch in seinem Buch »Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten« (2013) am Trieb fest, in welchem er »das Quere, Konträre, Abirrende, Überfließende, Faule« erhalten sieht. Gerade darin findet er etwas Hoffnungsvolles, in der Verschränkung von Natur und Kultur bleibe ein »irreduzibler Sexualrest«, der in letzter Konsequenz nicht als gesund, rich­tig, gut oder schlecht einzufangen und zu bändigen sei.

Mit dem von ihm eingeführten Begriff »Neosexualitäten« (2005) wollte Sigusch schließlich die Konsequenzen zweier sexueller Revolutionen beschrieben sehen, die sich in der Zeit seines Lebens ereignet hatten: eine laute, von der Studentenbewegung ausgelöste sexuelle Liberalisierung und eine anschließende, leise Zerlegung und Neuzusammensetzung der Sexualität. Kennzeichnend für die Neosexualitäten seien neben der Pluralisierung sexueller und geschlechtlicher Selbstentwürfe die Neukonfiguration der Sexualmoral und die veränderte Stellung der Perversionen, denn es »werden die »großen« alten Perversionen diskursiv aufgelöst und als normalisierte Lüste neu installiert«.

Treu geblieben ist der Autor der »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008) und des »Personenlexikons der Sexualforschung« (2009) seinem durchweg empathischen Zugang zu den sexuellen Abweichungen. In seinem sexualpolitischen Einsatz für die Entkriminalisierung der Homosexualität und die Reform des Sexualstrafrechts 1973, in seinem Streiten für eine Humanisierung des sexualtherapeutischen und -medizinischen Umgangs mit sexuellen Störungen sowie in seinen entschiedenen und wütenden Eingriffen in die Debatten über psychochirurgische Maßnahmen gegen sexuell delinquent gewordene Menschen drückt sich zweierlei aus: erstens ein Mitgefühl mit jenen, die in der jeweiligen Gegenwart als sexuell anders, krank, unvollständig und behandlungsbedürftig gelten, und zweitens die Überzeugung, dass auch die zumutenden und schockierenden Elemente der Sexualität – wie Pädosexualität oder Sexualstraftaten – zu dieser Gesellschaft zählen, weil sie von ihr produziert sind.

Dass die verdinglichten Verhältnisse die Beziehung der Menschen zueinander immer stärker bestimmen, darüber machte sich der in seinen Schriften nicht mit Eitelkeit sparende Sexualwissenschaftler keine Illusionen. Seine hierfür herangezogene Theorie und der Neologismus der Hylomatie konnte sich im wissenschaftlichen Sprachgebrauch allerdings nicht durchsetzen. Die damit angesprochene Dialektik von Stoff und Form, und was diese für die sexuellen Phänomene und ihre Entstehung bedeutet, sollte trotzdem nicht in Vergessenheit geraten.

Das in Frankfurt ansässige, drei Jahrzehnte von Sigusch geleitete Insti­tut für Sexualwissenschaft und die dazugehörige sexualmedizinische Ambulanz kamen mit seiner Emeritierung 2006 ersatzlos zu ihrem Ende und haben eine klaffende Lücke in der deutschsprachigen Sexualforschung hinterlassen. Das im Kontext der Kritischen Sexualwissenschaft entstandene Paradigma, wonach jede sexuelle Erscheinungsform soziale Rechte verdient, sollte mit dem Tod Volkmar Siguschs aber keinesfalls verdrängt werden.

Ruhe wird in der Sexualität ohnehin vorerst nicht eintreten, und das kann wissen, wer Sigusch gelesen hat. Sexualität lasse »das kulturell Untersagte zum Zug kommen«, und in einer sexuellen Handlung träten Dinge zurück, »die das Leben strangulieren: Harmlosigkeit, Gemütlichkeit, Gewissen, Sicherheit und Scham«. Anlässe zur sexualwissenschaftlichen Analyse und zur sexualpolitischen Zuspitzung werden also bleiben. Ob man diese noch kritisch wird nennen können, muss sich erst noch zeigen.