Der Naturbursche
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Trotz seiner sehr sichtbaren Männlichkeit war Christian verletzlich. Jedoch nicht in der Weise, wie etwas in sein Gegenteil kippen kann, als hätte es wie ein notwendiges Komplement schon immer wesenseigen unter der Oberfläche versteckt gelegen, sondern auf jene Art, in der alles – Mitgefühl, Rechtschaffenheit und selbst Freundlichkeit – in seiner Übersteigerung fanatisch wird. Christian war also in diesem Sinne Fanatiker: empathisch bis zur Selbstaufgabe, hypersensibel und eben deshalb verletzlich. Und genau das war der Grund, warum er wenig sprach.
Ich lernte ihn vor ungefähr zwanzig Jahren kennen, als ich gerade aus der Hauptstadt zurück ins Ostwestfälische, genauer in das Haus meiner Eltern, gezogen war. Sowohl ihr Tod als auch die Trennung von meiner Frau, seit der ich in Berlin weder glücklich noch produktiv gewesen war, lagen fast ein Jahr zurück – seither hatte das Haus leer gestanden, sporadisch gepflegt von der Nachbarin, die mich das letzte Mal als Zweiundzwanzigjährigen gesehen hatte. Der Umzug hatte sich die ganze Zeit über angeboten, aber vor Ablauf jener Einjahresfrist war es mir nicht möglich gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Nicht, dass nach ihrem Verstreichen etwas passiert wäre, es gab weder ein Ereignis noch ein zweifelhaftes Zeichen, das ich mit Bedeutung hätte aufladen können – der Schmerz war einfach verblasst, und diese Tatsache war irgendwann nicht mehr leugbar gewesen. Also hatte ich die vernünftige Entscheidung getroffen, aufs Land zu ziehen, um nach zehn Monaten und sechzehn Tagen – exakt so lange hatte meine Misere angedauert, als ich den Audi A4 in die Dorfstraße lenkte und auf das Haus zufuhr – in der ländlichen Abgeschiedenheit endlich wieder zu arbeiten.
Ich war gerade dreißig Jahre alt geworden, ein auch im Ausgang der neunziger Jahre, dem letzten Jahrzehnt des Pop und der Jugend, für einen Schriftsteller angenehm junges Alter.
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