Der Dokumentarfilm »Billie« lässt Freunde und Bekannte über Billie Holiday berichten

This Lady Is a Tramp

Billie Holidays Leben hat den Stoff für etliche Biographien geliefert, seien es Bücher oder Filme. Der Dokumentarfilm »Billie« zeigt anhand von Interviewaufnahmen mit Weggefährten, wie tough die Jazzsängerin war, und erzählt nebenbei die Geschichte der Journalistin Linda Lipnack Kuehl, die sich ein Jahrzehnt lang mit Holiday beschäftigte.

Die Zahl der Monographien über sie beläuft sich auf mindestens elf, eine davon hat Angela Davis geschrieben. Diana Ross verkörperte sie im Film »Lady Sings the Blues«. Und nicht zuletzt hat sie selbst, kurz vor ihrem Tod, ihre Erinnerungen zu Papier gebracht, die ebenfalls unter dem Titel »Lady Sings the Blues« in der Edition Nautilus auf Deutsch erschienen sind.

Es mangelt wahrlich nicht an biographischen Darstellungen über Billie Holiday. Doch ein besonders interessantes Buchprojekt über die wohl einflussreichste Jazzsängerin überhaupt wurde nie veröffentlicht. Denn die US-amerikanische Lehrerin und Kulturjournalistin Linda Lipnack Kuehl, die fast die gesamten siebziger Jahre mit der Recherche über das Leben von Holiday verbracht hatte, starb, bevor sie ihr Buch be­enden konnte.

Eine alte Freundin erzählt, dass Holiday schon in jungen Jahren zu fluchen pflegte; ihre Lieblingsworte waren »motherfucker« und »cocksucker«. Einige machten es sich sogar zur Gewohnheit, sie »Mister Billie Holiday« zu nennen.

Kuehl hatte 1971 begonnen, mit Familienmitgliedern, Musikerkollegen und Freunden von Holiday ­Interviews zu führen und aufzunehmen. Mit 200 Menschen hatte sie ­gesprochen, 125 Tapes blieben zurück, als sie 1978 in Washington, D.C., tot aufgefunden wurde. Diesen Nachlass kaufte der Dokumentarfilmemacher James Erskine auf und machte ihn zum Fundament für seinen Film »Billie«, der bereits 2019 Premiere feiert, aber erst jetzt in Deutschland im Kino anläuft.

Billie Holiday, die eigentlich Eleanora Fagan hieß, wurde 1915 in Philadelphia geboren und wuchs in Baltimore auf. Mit elf brach sie die Schule ab und arbeitete in einem Bordell, allerdings nicht als Prostituierte, sondern als Putzfrau. Hier kam sie auch mit dem Jazz in Berührung, der »Bordellmusik«, wie er damals abschätzig genannt wurde. Für ihre Arbeit ließ sie sich nicht mit Geld bezahlen, sondern damit, Platten von Bessie Smith oder Louis Armstrong auf dem Grammophon hören zu dürfen.

»Ich wollte immer so singen, wie Armstrong spielte. Wie ein Instrument«, hört man Holiday in »Billie« aus dem Off erzählen. Als junge Frau wird sie entdeckt, wie viele andere schwarze Musiker auch von ­einem Weißen, in diesem Fall vom berühmten Plattenproduzenten und Bürgerrechtler John Hammond, dem zu Holidays Stimme auch eine Assoziation zu einem Instrument kommt, sie erscheint ihm als »Hornistin«.

Holiday beginnt zu touren, erst mit der Swing-Band von Count Basie, dann als einzige schwarze Frau in der Band von Artie Shaw. Die Tour führte sie auch durch die Südstaaten, eine Premiere für eine Band mit ­einer nichtweißen Sängerin. Und das kriegt Holiday zu spüren, die Segre­gation war in den Dreißigern immer noch gang und gäbe. An Tankstellen konnte Holiday nicht auf die Toilette gehen, da diese nur von Weißen benutzt werden durfte, in manchen Restaurants wurde sie nicht bedient, und die Veranstaltungsräume durfte sie nur durch den Kücheneingang betreten.

In dem Film »Lady Sings the Blues« von 1972, in dem Diana Ross, die kurz zuvor die Supremes für eine Solokarriere verlassen hatte, Holiday verkörpert, geht es auch um Rassismus. Sein Hauptaugenmerk liegt aber darauf, in der Manier des New-Hollywood-Kinos die Drogensucht von Holiday zu erzählen. Ross ist auf den ersten Blick keine passende ­Besetzung: Ihre helle Stimme passt nicht zu der warmen und dunklen von Holiday, ihr fast schon ausgemergelter Körper hat nichts mit dem kräftigen des Vorbilds gemein. Doch natürlich war die Besetzung im ­Sinne der Repräsentation perfekt und machte Ross, die für ihren Part für einen Oscar nominiert wurde, endgültig zum Solostar.

Auch die Schauspielerin Andra Day wurde für ihre Darstellung von Billie Holiday für den Oscar nominiert, allerdings knappe 50 Jahre später. Der in diesem Jahr erschienene Film »The United States vs. Billie Holiday« wollte ein dezidiert anderes Bild der Sängerin zeichnen als »Lady Sings the Blues«. »Sie war nicht nur eine Drogensüchtige oder eine Jazzsän­gerin«, gab Regisseur Lee Daniels zu Protokoll und machte aus der histo­rischen Figur eine Art Vorkämpferin der Black-Lives-Matter-Bewegung.

Tatsächlich hat Holiday das wohl beeindruckendste Lied gegen Rassismus aufgenommen: »Strange Fruit«. Den äußerst expliziten Text, der ­einen an einem Baum aufgeknüpften Gelynchten beschreibt, verfasste der jüdische Kommunist Abel Meeropol. Während die Holiday aus »Lady Sings the Blues« ganz zufällig auf Tour an den Tatort eines Lynchmords gerät und dann in der nächsten Szene das Lied singt, wird die Holiday in »The United States vs. Billie Holiday« von Polizisten von der Bühne gezerrt, nachdem sie den Song nur angestimmt hatte. Eine Szene, die den Jazzpianisten und Musikwissenschaftler Lewis Porter dazu veranlasste, von einem der »schlimmsten Fälle von Geschichtsverfälschung in der Geschichte von Hollywood« zu schreiben. Denn Holiday wurde niemals von der Polizei von der Bühne eskortiert, die Szene ist frei erfunden. Sie erfüllt aber ihren Zweck. Ärger mit den Behörden hatte die wirkliche Holiday durchaus, aber wegen ihrer Drogensucht.

Auch anhand dieser Sucht lässt sich ziemlich gut erzählen, wie Fakten in biographischen Arbeiten gerne verdreht werden. Das allgemeine Bild von Holiday als tragischer Gestalt, die dem Heroin völlig verfallen war, wurde auch in »Lady Sings the Blues« perpetuiert. Doch die Zeitzeugen in »Billie« rücken das Bild gerade. Der Jazzpianist Bobby Tucker beispielsweise gibt trocken zu Protokoll: »Sie wollte einfach high werden. So einfach ist das.«

In anderen Dingen sind sich die Interviewpartner aus »Billie« nicht so einig, vielmehr kann man ihnen anhören, mit welcher Vehemenz sie einen Kampf um die Deutungshoheit über Holiday ausfechten: Jo Jones, Schlagzeuger aus der Band von Count Basie, bestreitet in seinen im Film zu hörenden Interviews mit deftigen Worten die Stellung Hammonds als großer Förderer von Holiday und geht sogar so weit, zu behaupten, dass Hammond sie aus der Band gefeuert habe, da sie sich weigerte, sich betont als Schwarze, als »Black Mommy« zu inszenieren. Hammond widerspricht dem und erzählt, Holiday habe aus freien Stücken gekündigt. Der Dokumentarfilm schlägt sich hier nicht auf eine Seite, sondern legt den Konflikt offen, vor allem den von Biographin Kuehl, die sich überlegen muss, wie sie mit den widerstreitenden Aussagen umgehen will.

Natürlich wird aber auch in »Billie« viel Rührseliges erzählt, zum Beispiel, dass »Lady Day«, wie Holidays Spitzname lautete, nur die »reine Wahrheit« gesungen und etwas anderes gar nicht gekannt habe. In einer Sache aber herrscht wieder Einigkeit: Holiday war mitnichten eine »Lady«, sie war sogar außerordentlich burschikos, tough und vulgär. Eine alte Freundin erzählt, dass sie schon in jungen Jahren zu fluchen pflegte; ihre Lieblingsworte waren »motherfucker« und »cocksucker«. Einige machten es sich sogar zur Gewohnheit, sie »Mister Billie Holiday« zu nennen. Der Jazztrompeter Sweets Edison bringt es auf den Punkt: »Sie war ein Mann, nur feminin.« Andere berichten, sie sei offen bisexuell gewesen.

Besonders erfreulich ist, dass für »Billie« mehrere Filmaufnahmen von Auftritten Holidays, die anderweitig schwer zu finden sind, restauriert und koloriert wurden, so auch ­einer ihrer letzten kurz vor ihrem Tod 1959, bei dem sie wieder »Strange Fruit« sang. Der Auftritt, der leider nicht ohne Unterbrechung gezeigt wird, zeigt Holidays ganze Anmut: Beim Singen bewegt sich ihr ganzes Gesicht, den Kopf wiegt sie hin und her, die Augen fallen sanft zu und öffnen sich sachte wieder, eine ­Augenbraue wird flink nach oben gezogen, ihre Lippen scheinen jedes Wort zurückzuhalten, bevor es den Mund verlässt. Die unglaubliche ­Wirkung dieses Protestliedes hat eben auch damit zu tun, dass Holiday sonst eigentlich nur Liebeslieder sang, und die Sinnlichkeit, die es dazu benötigt, legt sie auch in die Interpretation dieses politischen und dennoch poetischen Lieds.

Da das, was die Zeitzeugen zu erzählen haben, vor Jahrzehnten auf Tonband aufgenommen wurde, bekommt man sie im gesamten Film nicht zu Gesicht. Bis auf eine Ausnahme: Die Schwester von Linda ­Lipnack Kuehl, die die Filmemacher über die Arbeit ihrer Schwester an dem Buch befragt haben, wird gezeigt, wie sie von dem mysteriösen Tod Kuehls berichtet. Diese war tot auf einer Straße in Washington, D.C., gefunden worden, nachdem sie ein Konzert von Count Basie besucht hatte; man hielt es für Selbstmord. Doch ihre Schwester zweifelt an dieser Erklärung. Sie erzählt etwas raunend, Kuehl habe mehr als ein professionelles Verhältnis zu Count Basie unterhalten. Ihre Identifikation mit Holiday während des Schreibens sei ohnehin außergewöhnlich stark gewesen. Ihr sei es ein Anliegen gewesen, Holiday nicht als Opfer zu zeigen. Der biographische Film über Holiday, dem durchaus daran gelegen ist, mit den Mythen über sie aufzuräumen, wird auf den letzten Metern dann noch noch ein biographischer Film über die Journalistin Linda Lipnack Kuehl und über ihre feministische Solidarität mit Billie Holiday, die sich – wie sie selbst – öfter auf aggressive Männer einließ und ebenso wie sie viel zu früh starb.

Billie (GB 2019) Buch und Regie: James Erskine. Filmstart: 11. November