Der Dokumentarfilm »­Billie Eilish: The World’s a Little Blurry«

Der Dämonen Herrin werden

Der Regisseur R. J. Cutler begleitete Billie Eilish während der Aufnahmen zu ihrem Debütalbum »When We All Fall Asleep, Where Do We Go?« mit der Kamera. Herausgekommen ist ein Film, der das ganz normale Leben hinter der artifiziellen Popfigur zeigt.

»Wir haben dieses Album in einem Schlafzimmer gemacht. In dem Haus, in dem wir aufgewachsen sind.« Es scheint Billie Eilish selbst absurd vorzukommen. Dabei ist das, was sie ­beschreibt, an sich nichts Besonderes mehr: Auf der ganzen Welt musizieren junge Menschen unter elterlicher Obhut und teilen das Ergebnis mit der Welt. Neu ist allerdings, dass dann auch tatsächlich die ganze Welt zuhört. Eilish sagte diesen Satz voller Erstaunen, als sie vor einem Jahr mit ihrem Debütalbum gleich fünf Grammys gewann (dieses Jahr kamen zwei weitere dazu). Die Musik für diesen phänomenalen Erfolg wurde im Schlafzimmer von Billie Eilish und in dem ihres Bruders und Produzenten Finneas O’Connell aufgenommen: Ihr Bedroom-Pop ist seitdem das Gebot der Stunde.

Der Regisseur Cutler tut gut daran, die Nahbarkeit seiner Protagonistin in das Zentrum seines Films zu stellen und Billie Billie sein zu lassen.

Der jüngst bei Apple TV erschienene Dokumentarfilm »Billie Eilish: The World’s a Little Blurry« von R. J. Cutler thematisiert nebenbei auch diesen Wandel in der Musikindustrie. Der Regisseur begleitete die junge Musikerin bei der Arbeit an »When We All Fall Asleep, Where Do We Go?« sowie bei ihrem endgültigen Aufstieg zum Superstar nach dessen Veröffentlichung 2019. Das Album herausgebracht hat die Plattenfirma Interscope, und es ist bemerkenswert, was für einen schlechten Eindruck das Label im Film macht. In einer Szene spielen Eilish und O’Connell den Entscheidungsträgern des Labels Songs vor, von denen man jetzt weiß, dass sie Welthits wurden – doch die Funktionäre frustrieren die Künstler mit verhaltenen Reaktionen, die die Zuschauer als krasse Fehleinschätzung interpretieren müssen. Interscope lässt es sich gefallen, im Film über den eigenen Star schlecht dazustehen, weil die Firma weiß, dass es in ihrem ­eigenen Interesse ist, wenn Eilish die Oberhand behält. Sie ist die Heldin des Films und eine Heldin braucht als Gegenspieler nun einmal bad guys.

Doch wäre es ein Fehler, dem Film vorzuwerfen, diese Dramaturgie sei aus bloßem Kalkül inszeniert. Interscope hat lediglich erkannt, dass ­Eilishs Popularität von ihrer Selbstbestimmtheit lebt. Diese ermöglicht ihr, etwas zu verkörpern, wonach sich ihre Fans sehnen, ohne dabei unerreichbar zu erscheinen. So zeigt der Film Geschwister, die gemeinsam im Haus ihrer Eltern abhängen, ­Ideen austauschen und Musik aufnehmen. Diese Bilder bieten Fans sehr viel mehr Identifikationsmöglichkeiten, als es die sterile Umgebung eines professionellen Tonstudios könnte.

Cutler tut gut daran, diese Nah­barkeit in das Zentrum seines Films zu stellen und Billie Billie sein zu ­lassen. Er inszeniert den Film naturalistisch, wie eine Abfolge von Ereignissen, die sich mit wenigen Ausnahmen auch genauso hätten abspielen können, wenn keine Kamera präsent gewesen wäre. Niemand hat sich für »The World’s a Little Blurry« extra in ein Studio begeben, um ein paar kluge oder aufschlussreiche Sätze in eine Kamera zu sprechen. Das wäre schließlich das filmische Pendant zum Tonstudio gewesen, das die junge Musikerin kurzerhand durch den heimischen PC ersetzte. Dass Eilish auch jetzt noch bei ihren Eltern lebt, nutzt der Film außerdem, um sie und ihre Familie als Verwirklichung ­eines zutiefst US-amerikanischen Ideals darzustellen: Die starke Persönlichkeit von Billie Eilish ist eine Tugend, die sich nur mit ihrer Familie im Rücken voll entfaltet kann.

Stellenweise fühlt sich Cutlers ­Dokumentation fast an wie einer von Richard Linklaters Coming-of-Age-Filmen. Eilish durchlebt neben all den außergewöhnlichen Dingen, die der Aufstieg zum Popstar mit sich bringt, auch sämtliche gewöhnlichen Konflikte, die eine 17jährige meistern muss: Sie macht ihren Führerschein, streitet sich mit ihrer Mutter, leidet an Selbstzweifeln. Man wird sogar ­Zeuge einer Liebesbeziehung, die im Verlauf des Films in die Brüche geht. Dass in »The World’s a Little Blurry« das Hauptaugenmerk auf den gewöhnlichen Konflikten liegt, ist nicht ungewöhnlich, denn im Pop wird ­gerade die Adoleszenz als permanenter Ausnahmezustand zelebriert.

Der Filmtitel entstammt dem Song »Ilomilo«, in dem es heißt: »The world’s a little blurry / Or maybe it’s my eyes«. Klar, Angst und Unsicherheit von Teenagern werden in der Pop­kultur gerne beschworen, in Eilishs düsterem Elektropop finden sie einen starken Ausdruck. Interessanter ist die grundlegende Unsicherheit: Wo hat mein Weltschmerz seinen Ursprung, in der Welt oder in mir? Billie Eilish stellt diese Frage, ohne sie zu beantworten. Stattdessen ringt sie mit den Zweifeln, die diese Ungewissheit mit sich bringt.

Es ein Anliegen des Films, seine Protagonistin als authentische Künstlerin darzustellen. Vergleicht man Cutlers Film mit Eilishs eigenen Musikvideos (bei denen sie zum Teil selbst Regie führt), sieht man einen klaren Unterschied. An die Stelle des geerdeten Naturalismus der Dokumentation tritt in den Musik­videos die unverhohlene Inszenierung, die sich bevorzugt beim Horror-Genre bedient. Doch die artifizielle Form dient dem überspitzten Ausdruck wirklicher Probleme. Der Blick hinter die Kulissen im Film schafft es somit, durch das nahbare Zeigen von Billie Eilish die Wirkung ihrer künstlichen Inszenierung noch zu verstärken.

Um das zu erreichen, schreckt »The World’s a Little Blurry« auch vor Eilishs persönlichen Dämonen nicht zurück – sind es doch diese Dämonen, die sie in ihrem Song »Bury a Friend« unter ihrem Bett entdeckt. »I wanna end me«, singt sie in dem Lied – im Film zeigt sie ein Notizbuch, in das sie als 15jährige über ihre Selbstverletzungen geschrieben hat. »Warum ist es so schockierend, wenn ich darüber spreche, wer ich als Mensch bin?« fragt sie frustriert, als sie auf die düsteren Themen in ihrer Musik angesprochen wird.

Richtig rund wird der Film über die Teenagerin Billie Eilish durch einen unerwarteten Nebendarsteller. In der ersten Hälfte des Films erzählt Eilish davon, wie sie als 12jährige von Justin Bieber besessen war, ein denkbar uncooler Bezugspunkt, der in der Erzählung des Films aber eine zentrale Rolle einnimmt. In der zweiten Hälfte – nach der Trennung von ihrem Freund, besonders zehrenden Touren und zusätzlichem Stress durch eine Beinverletzung – trifft sie Bieber im Bühnengraben eines Festivals. Der einst berühmteste Teenager der Welt nimmt seine Nachfolgerin in die Arme und Eilish fängt unkontrolliert zu schluchzen an. Cutlers Film setzt dem Unverständnis, das der adoleszente Popfan immer wieder für seinen Enthusiasmus erntet, ein Bild des Fanseins als bedeutungsvolle Erfahrung entgegen.

Womit man wieder beim Bedroom-Pop wäre. Das Zimmer, das einst mit Postern von Bieber verziert war, ist zur Bühne des nächsten Popidols geworden. Zu Beginn des Films sieht man dort Eilishs Musik entstehen, am Ende liegt sie in ihrem Bett, als ihre Eltern sie wecken, um ihr mit­zuteilen, dass sie für mehrere Grammys nominiert worden ist. Ein Bett prangt auch auf dem Cover ihres Albums und ist Teil ihres Bühnenbilds bei Konzerten. In der letzten Live-Performance des Films sitzen Eilish und ihr Bruder O’Connell auf diesem Bühnenbett und spielen zu zweit den Song »I Love You«, während das Bett in die Höhe schwebt. Die Dämonen darunter sind nun für alle sichtbar, die Jugendlichen darauf thronen über ihnen. Sie haben die Dämonen bezwungen, indem sie sie zum Teil ihrer Kunst gemacht haben.

»Billie Eilish: The World’s a Little Blurry« (USA 2021). Regie: R. J. Cutler. Der Film kann bei Apple TV gestreamt werden.