Compliance-Lehrgang bei der »Bild«-Zeitung

Motivieren, malträtieren, menscheln

Die preisgekrönte Reportage. Die »Bild«-Zeitung pocht auf Compliance, das Einhalten unternehmensinterner Richtlinien.
Die preisgekrönte Reportage Von

»Die Frage ist: Was verstehen wir unter Compliance?« Johannes Frohn wechselt zur nächsten Seite seiner Präsentation. »Laut Wörterbuch zum einen die Bereitschaft eines Patienten zur aktiven Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen, zum anderen die elastische Volumendehnbarkeit von Atmungs- und Gefäßsystemen.« Das Bild eines Gefäßsystems taucht auf der nächsten Powerpoint- Folie auf. Es schwillt an, bis es platzt.
»Versuchen Sie mal, sich die Bild-Zeitung als Gefäßsystem vorzustellen.« Einige der 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeitung, die an der Schulung teilnehmen, schließen die Augen, andere blicken ungläubig auf die Präsentation, die ihnen Frohn, ein Mitarbeiter der Unternehmensberatung Feelfresh, gerade vorstellt. »Da haben Sie den Kopf. Von dem geht ein unglaublicher Gestank aus.
Unter anderem deswegen, weil der Kopf unter so großem Druck steht. Wie beim menschlichen Organismus. Wussten Sie, dass das menschliche
Gehirn von allen Organen die meiste Energie verbraucht? So ist es auch mit einer Organisation, so ist es auch mit der Bild-Redaktion.« Nur vier Stunden später kommt Frohn erschöpft, aber glücklich für ein Interview zu uns in den Pausenraum. »Bei einem Fall wie der Bild ist es sehr wichtig, alle mitzunehmen. Wir wollen eine gemeinsame Ethik entwickeln. Ja, wir sind ein abgefeimtes Schmierenblatt, das sich jede Woche neu an menschlichem Leid aufgeilt und bereichert. Aber die Frage ist: Wird diese Kultur auch nach innen gelebt?«

Das potentielle Fehlverhalten von Chefredakteur Julian R. soll bei der Schulung erst mal nicht zur Debatte stehen: »Wir müssen hier wie überall die Verluste sozialisieren. Sind wir alle nicht auch ein bisschen daran schuld, dass die Sache jetzt so eskaliert ist? Müssen wir uns nicht alle ein bisschen an die eigene Nase fassen?« Frohn und Feelfresh möchten vor allem nach vorne schauen: »Bild muss ein Unternehmen sein, das die Menschen da draußen ruiniert, nicht
die Menschen, die hier arbeiten. Wir haben bereits einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgestellt: jeden Tag frisches Obst, ein Tischkicker für alle Pausenräume.« Besonders wichtig: gemeinsame Projekte. »Wie verschaffen wir Friedrich Merz einen neuen Job? Wie kriegen wir die Geschäfte auch in der dritten Welle auf? Das sind doch die wichtigen Fragen!«