Rafael Horzon hat ein Buch darüber geschrieben, wie er versucht, einen Bestseller zu schreiben

Ein Schelm, wer »Künstler« dabei denkt

In »Das neue Buch« begleitet man den Berliner Möbeldesigner Rafael Horzon durch das Jahr 2019. Es handelt von Freundschaft und Tod – und dem Versuch, einen Bestseller zu schreiben.

Rafael Horzon ist ein Schelm. Das zweite Buch des findigen wie umtriebigen Unternehmers und Möbel­designers, das zehn Jahre nach seinem orthographisch zweifelhaft betitelten »Das weisse Buch« erscheint, trägt einen ebenso viel- wie nichtssagenden Titel: »Das neue Buch«. Es beginnt wieder mit einem selbstbewussten Nietzsche-Zitat und enthält zwei Bildstrecken mit zahlreichen »Dokumentarfotos« von Horzon und seinen Freunden, die die Wahrhaftigkeit des Beschriebenen unterstreichen sollen. Gewidmet ist »Das neue Buch« Carl Jakob Haupt. Der Berliner Modeblogger und Partyveranstalter ist im April 2019 mit nur 34 Jahren an Krebs gestorben.

Horzon geht es darum, »interessante Dinge zu tun, die keine Kunst sind«. Dadurch entstehe die »Neue Wirklichkeit«, wie er es nennt.

Während »Das weisse Buch« – Horzon ersetzt jedes »ß« durch Doppel-s – aus dem Jahr 2010 allerlei Geschäftsvorhaben Horzons in Berlin-Mitte seit Mitte der neunziger Jahre mehr oder weniger realistisch beschrieb, handelt »Das neue Buch« nicht zuletzt davon, überhaupt ein Thema und einen Titel für das dem Verlag vollmundig angekündigte Werk zu finden. Daneben flicht Horzon einige seiner Erlebnisse des Jahres 2019 beiläufig und mit leichter Hand ein. In »Das neue Buch« erzählt Horzon allerdings nicht mehr in der ersten, sondern in der dritte Person und trennt so den Autor deutlicher vom Protagonisten des Buchs – beide erscheinen ziemlich unzuverlässig, zumal es sich dem Anspruch nach um ein autobiographisches Sachbuch, um eine bloße Chronik handelt.

Wie es sich für einen Produktdesigner gehört – das Unternehmen Moebel Horzon, vor allem bekannt für schicke, schlichte und funktionale Regalwände, gibt es inzwischen seit mehr als 20 Jahren –, beginnt das Buch mit einer Präsentation des Konzepts vor dem potentiellen Käufer, also dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, wobei Horzons Konzept sich im Wesentlichen darauf beschränkt, ein umsatzträchtiges Buch schreiben zu wollen. Landgrebe schlägt Horzon vor, er solle doch zum Beispiel »einen fantasievollen Abenteuer-Roman« verfassen, doch der wiegelt ab: »›Ich kann immer nur das aufschreiben, was mir tatsächlich passiert ist. Ich kann mein Leben nacherzählen. Oder ich kann ein Sachbuch schreiben. Aber keinen Roman. Ich habe keine Fantasie.‹ ›Hmmm … , machte Landgrebe. ›Keine Fantasie?‹«

Dafür hat Horzon bereits einige Titelvorschläge parat, um das Buch als Bestseller zu vermarkten. Doch Landgrebe zeigt sich wenig begeistert von der Idee, es unter dem Titel »Der Koran« herauszubringen. Auch »Nummer 1 Bestseller« stößt als vermeintlich verkaufsfördernder Buchtitel nicht auf Gegenliebe. Und sehr zum Unmut Horzons gibt es nicht einmal einen Vorschuss, auch wenn er seinen Freunden anschließend großspurig das Gegenteil erzählt.

Bereits in Hinblick auf »Das weisse Buch« hatte Rafael Horzon darauf gepocht, dass er kein Künstler und kein Schriftsteller sei, zumal dies seinem Ansehen als ernsthafter ­Unternehmer schaden könnte. Er begründete sogar eingehend, dass er die künstlerischen Herangehensweise von Marcel Duchamp umzu­kehren beabsichtige. Dessen Idee, Alltagsgegenstände zu Kunst zu ­erklären, sei heutzutage banal und verbraucht. Stattdessen gehe es darum, »interessante Dinge zu tun, die keine Kunst sind«. Dadurch ent­stehe die »Neue Wirklichkeit«, wie er es nannte.

In »Das neue Buch« radikalisiert Horzon dieses Selbstverständnis noch, indem er über seine Klage gegen Wikipedia im Herbst 2019 schreibt, genau genommen über eine Unterlassungsaufforderung an ­Wikimedia Deutschland e. V. Er zitiert ein Schreiben seiner Rechtsanwältin: »Unser Mandant ist weder künstlerisch noch als Schriftsteller tätig. Vielmehr wird er tätig als Unternehmer mit diversen Unternehmen, als Autor von Sachbüchern und als Designer.« Daher solle dafür Sorge getragen werden, dass derlei »Falschbezeichnungen« auf Wikipedia bei der Beschreibung seiner Person nicht mehr auftauchten. Außerdem habe Horzon »die von ihm hergestellten Gegenstände (…) nie in Galerien oder Ausstellungen als Kunst dargestellt«.

Dass Horzon das Buch mit der Aussage gegenüber dem Verleger (keine Phantasie!) rahmt und dem Künstlertum eine programmatische Absage erteilt, ließe sich als autofiktionale Spielerei abtun; zumal der Autor eine Vorliebe für von umso aus­geprägtere Übertreibungen und geradezu magisch-realistische Stilelemente bei der Beschreibung der Begegnungen mit Bekannten zeigt, von denen viele (Moritz von Uslar, Daniel Kehlmann, Helene Hegemann, Alicja Kwade, Gregor Hildebrandt etc.) wegen ihrer literarischen oder künstlerischen Arbeit angesehen sind. Doch genauso gut könnte man umgekehrt argumentieren, dass Horzon mit den Ausdrucksmitteln des Schelmenromans die eigentlich an Belletristik interessierte Leserschaft in die »Neue Wirklichkeit« seines Alltags lockt. Auf manche lite­rarische Verweise, etwa auf den klassischen Schelmenroman »Der brave Soldat Schwejk« von Jaroslav Hašek, hätte er dabei sogar verzichten können.

Andererseits sorgen gerade die Narrenmaske des Protagonisten und das Wiederauftauchen der Wahrsagerin Signora Sarasate, die schon in »Das weisse Buch« den Helden zu seinen Taten motivierte, dafür, das Interessante im Alltäglichen stärker hervorzukehren – oder mit Hilfe der fingierten Literarizität die Besonderheit etwa der Gespräche mit den Freunden überhaupt zu bemerken. Übertragen auf den freundschaft­lichen Hedonismus, der die gemeinsamen Partys, Reisen, Galerie- und Pferderennbahnbesuche, Bootstouren auf dem Wannsee oder die Hochzeit von Carl Jakob Haupt und Giannina Müller prägt, sorgt Horzons schelmisches Lebens- und Gestaltungskonzept für umso größere Spannung zum tragischen und eben alles andere als fiktionalen Schicksal seines Freundes und zeitweiligen Mitarbeiters Carl Jakob Haupt.

Der Tod Haupts ist nun einmal die wahre Wirklichkeit und lässt sich durch die phantastischen Einsprengsel und die tragikomischen Erscheinungen, in denen Horzon ihn wiedererkennen möchte, wie er aus dem Jenseits spricht, leichter verarbeiten. Bei aller Selbstironie und augenzwinkernden Vordergründigkeit aber muss der Versuch, Krankheit und Sterben lachend gegenüberzutreten, immer schmerzhaft bleiben – wenn es doch wirklich nur Kunst oder nur Fiktion wäre.

Insofern ist Horzons Konzept auch Ausdruck eines lebensbejahenden, geradezu existentialistischen Hedonismus: das Leben zu betrachten und zu behandeln, als ob es nicht der profane Alltag abseits der erhabenen Werke der Künste wäre, aber ohne sich selbst dabei allzu ernst zu ­nehmen. Auch dafür ist der simulierte Schelmenroman eine passende Form.

So lässt sich auch verschmerzen, dass die Sozialkritik, die für die ­Gattung ebenfalls typisch ist, bei Horzon kaum eine Rolle spielt. Denn in der Regel wird die Froschperspektive des Schelms oder der Schelmin auch genutzt, um zumindest indirekt gesellschaftliche Missstände zu beanstanden. Mit den eigenen menschlichen Unzulänglichkeiten und der Ungerechtigkeit der Natur – Krankheit und Sterblichkeit – hat Horzon genügend Material für »Das neue Buch«, das sogar lustiger und zugleich eben trauriger ausfällt als sein Vorgänger von vor zehn Jahren.

Irgendwann erkennt auch der Protagonist Horzon, dass er jetzt nur noch loslegen müsste: »›Also, es gibt eigentlich überhaupt nichts, was mich jetzt noch vom Schreiben abhalten könnte. (…) Da müsste schon eine Naturkatastrophe über uns hereinbrechen. (…) Eine Seuche oder sowas.‹ ›Auf was für Ideen du immer kommst, Rafael.‹«

Rafael Horzon: Das neue Buch. Suhrkamp, Berlin 2020, 303 Seiten, 20 Euro