Der Generationenbegriff bei Jana Hensel

Diskursticket »Generation« (Ausschnitt)

Zwischen literarischer Selbstermächtigung, kollektiver Erinnerung und konstruierter Identität: Mit dem Buch »Zonenkinder« wurde Jana Hensel 2002 zur Repräsentantin der letzten noch in der DDR sozialisierten Generation. 2010 versuchten Autoren und Autorinnen derselben Alterskohorte, sich unter der Bezeichnungen »Dritte Generation Ost« Gehör in der Diskussion über die Wende und die DDR zu verschaffen.
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I.
2002 veröffentlichte die damals gänzlich unbekannte 26jährige Autorin Jana Hensel ein schmales, locker gesetztes Bändchen über die 13 Jahre ihres Lebens in der DDR und die ­Erfahrungen mit ihrer ostdeutschen Herkunft nach der Wende. Der Er­innerungsband »Zonenkinder« avancierte schnell zum Bestseller und wurde ebenso breit wie kontrovers diskutiert. Heute wird ein FAZ-­Interview mit Hensel schon mal mit dem Satz »Durch sie spricht der ­Osten« anmoderiert. Hensel war zeitweilig stellvertretende Herausgeberin des Freitag und schreibt heute gewissermaßen als Ostbeauftragte der Zeit für die Rubrik »Die Zeit im ­Osten«. Sie ist zu einer der bekanntesten Sprecherinnen für den Osten ­geworden. Die Entstehung dieser Sprecherposition ist erklärungsbedürftig. Dass eine Autorin, die zu jung ist, um über die DDR wirklich Auskunft geben zu können, und die weder ­literarisch noch analytisch aus der Masse der DDR-Kommentatoren ­herausragt, die auch keine »Karriere« der Schuld, des Leidens oder des ­Widerstands aus der DDR mitbringt und keine Familiengeschichte, die sie im Legitimationsgefüge der bundesrepublikanischen Medien irgendwie ausweisen würde, dass also eine solche Autorin als »Stimme des ­Ostens« wahrgenommen wird, versteht sich nicht von selbst.

Tatsächlich erinnert Hensel wohl auch in Ermangelung eines reichen Erfahrungs­schatzes die DDR als eine Art Marken­enzyklopädie. Die DDR ist bei ihr ein Kosmos bestimmter Dinge und der mit ihnen verbundenen, oft merkwürdigen Namen.

Vor allem zwei Aspekte von »Zonenkinder« wurden kontrovers diskutiert. Erstens nahm die Kritik am Markenfetischismus des Buchs Anstoß. Tatsächlich erinnert Hensel wohl auch in Ermangelung eines reichen Erfahrungsschatzes die DDR als eine Art Markenenzyklopädie. Die DDR ist bei ihr ein Kosmos bestimmter ­Dinge und der mit ihnen verbundenen, oft merkwürdigen Namen, wobei die Merkwürdigkeit der Namen die Dinge und ihren sozialen Kontext oft überlagert: Polylux und Olsenbande, Trommel, ABC-Zeitung, Schlagballweitwurf, Halstuch, Pioniernachmittag, Trabbi, Wartburg, Jesuslatschen, Rotkäppchensekt und ­Rosenthaler Kadarka. Häufig werden diese Dinge im Zusammenhang mit ihrem vermeintlich westdeutschen Pendant genannt – etwa die DDR-Zeitschrift Trommel und die westdeutsche Bravo, als seien das Funk­tionsäquivalente, die lediglich verschiedene Namen tragen. Während das vornehmlich westdeutsche Rezensenten als gelungene »Anpassung« an den popliterarischen Code, als Einkehr in eine gesamtdeutsche Literatursprache bejubelten, äußerten sich die Kritiker, deren Leben in der DDR begonnen hatte – und davon gab es in diesem Fall sogar zwei –, sehr viel kritischer über Hensels »Anpassungsleistung«. Sie monierten, dass Marken das falsche Erinnerungsdispositiv seien. Der Verdacht war, dass Hensel der DDR eine Erinnerungsordnung überstülpte, die sich weniger aus der Auseinandersetzung mit der Realität als aus dem literarischen Vorbild ihres Buchs speiste – Florian Illies’ kurz zuvor erschienenem Bestseller »Generation Golf«. Die Parallelen zwischen beiden Büchern sind offenkundig, und es erschien kaum eine Rezension, die sie nicht bemerkt hätte. »Es sind Bilder des Ostens in den Farben der Bundesrepublik«, schrieb Jens Bisky. Hensel selbst hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass »Generation Golf« ihr als Vorlage diente.

Der zweite strittige Punkt ist der Umgang mit dem Personalpronomen »wir«. Kaum ein Satz, der sich nicht auf der ersten Person Plural abstützt, was nicht nur durch die enorme Häufung auffällt, sondern auch dadurch, dass diesem »Wir« nirgendwo eine konkrete Anzahl von Personen entspricht. Hensel machte aus der Not der individuellen Erfahrungsarmut eine Tugend und setzte das, was im Grunde die allgemeinen ­Parameter einer DDR-Jugendbiographie waren, an die Stelle der individuellen Erinnerung und ließ es so aussehen, als entspräche die indi­viduelle Erinnerung der kollektiven. Über die Zumutung dieser Strategie vor allem für einen Leser, der selbst aus dem Osten kommt, schrieb Peter Richter: »So schnell hat noch kein Hippie seinem Gegenüber das Du aufgedrängt wie dieses Buch dem Leser das Wir. Wie zur Korrektur der umstrittenen Thesen, die der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer vor einigen Jahren über die Gewalttätigkeit des Ostens aufgestellt hat, werden ›wir‹ alle noch einmal kollektiv auf den Nachttopf ­gesetzt, werden aber nicht aggressiv, sondern sehr friedlich.« Ebenso ­wenig wie Bisky wollte Richter sich in Hensels »Wir« einschließen lassen, das einerseits an die Zwangskollektivierung Ost erinnerte und andererseits jenen Westdeutschen recht zu geben schien, die in den Ostdeutschen ohnehin nur die Produkte der Zwangsgemeinschaft zu erkennen vermochten. Allerdings ist das »Wir« auch Teil einer Legitimationsstrategie der damals gänzlich unbekannten Autorin Jana Hensel. Ihre Stimme bekommt überhaupt nur Gewicht, ­indem sie sich als kollektives Subjekt vervielfältigt. Der regressive Kollek­tivierungsschub ist weniger ein Effekt der Sozialisation als einer der Auto­risierung der Autorin unter den Kommunikationsbedingungen der neuen Bundesrepublik.

Um zu verstehen, wie diese Autorisierungsstrategie funktioniert, reicht es aber nicht aus, festzustellen, dass die Autorin pausenlos »wir« sagt. Kollektive können sehr unterschiedlich motiviert werden, als Familie, als Nation, als Glaubensgemeinschaft et cetera. Das »Wir« Hensels ist ein generationelles Kollektiv: »Das einzige Kontinuum unseres Lebens aber mussten wir selbst erschaffen: Das ist unsere Generation«, schreibt sie in »Zonenkinder«. Diese Generation war prekär. Durch die relativ kurze DDR-Sozialisation fehlte ihr auf der einen Seite die Erfahrung des sozialen Drucks, der noch ein klares Generationsprofil mit Bezug auf die DDR hervorgebracht hätte. Es franste aus zwischen der Herkunft aus der DDR und der Zugehörigkeit zu den Altersgenossen aus der alten Bundesrepu­blik. Dadurch fiel sie durch das Raster der Generationssoziologie, die sich nur mit den »echten« DDR-Generationen befasste. Dass Hensel meint, sie selbst müsse diese Generation erst »schaffen«, lässt weniger auf ein Bewusstsein vom sozial-konstruktiven Charakter von Generationen schließen als auf die Spezifik ihrer Generation: Während es Generationsprofile für andere Alterskohorten gab, gab es sie für ihre eben nicht. Es war also die spezifische Signatur ­ihrer »Generation«, dass sie sich ihr Generationsprofil selbst erschaffen musste. Man kann es natürlich auch anders sagen: Hensel verlieh nicht ­ihrer Generation eine Stimme, sie konstruierte vielmehr die Genera­tion, die ihrer Stimme erst Autorität verlieh.

Wie bei allen Kollektiven ist der Grund ihrer Konstitution zugleich ihre Funktion. Sie beruhen auf Einschluss und Ausschluss und sie erzeugen Einschluss und Ausschluss. Was aber schloss Hensels Genera­tion ein und aus? Sicher ging es immer wieder um Ost-West-Differenzen vornehmlich mit Gleichaltrigen. Immer wieder wurde die Beschreibung dieser Differenz aber vom Wunsch nach Zugehörigkeit getragen. Viel stärker grenzt sich Hensel von einer anderen ostdeutscher Generationen ab: den in den vierziger und fünfziger Jahren geborenen Eltern. Von anderen Altersgruppen war, weil sich Generationsprofile natürlich am schärfsten mit Bezug auf die ­Elterngeneration abzeichnen, ohnehin nicht die Rede. Anders als es heute auch Hensel selbst scheinen mag, sprach sie damals nicht für »die Ostdeutschen«, im Gegenteil, sie konstituierte ihre Generation, um sich von »den Ostdeutschen« zu unterscheiden. Sie gehöre zu den ersten Westdeutschen, die aus dem Osten kamen, heißt es in einem der meist­zitierten Sätze des Buchs. Das heißt auch, dass diese junge Generation sich erfolgreich assimilieren konnte, was den Älteren nicht gelang, die hoffnungslose Opfer ihrer Herkunft waren und blieben. Die Reaktion der altbundesrepublikanischen Kritik lässt darauf schließen, dass diese Strategie aufging und Hensel auch deshalb so positiv wahrgenommen wurde, weil sie ihre Zugehörigkeit zum Osten bestritt und sich »anpasste«.

II.
Die Sache mit dem Personalpronomen wird in den späteren Texten Hensels komplizierter. Inzwischen verwendet die Autorin in ihren journalistischen Texten auch die »Ich«-Form, weil das die »ehrlichste Form« sei, »fragil und zweifelnd«. Es handelt sich um eine Art postsozialistischer Mimikry an Christa Wolf, ­deren Weg vom Wir zum Ich führte und die die Errungenschaft ihrer Subjektivität wie keine andere Autorin der DDR ausstellte. Gleichwohl wird dieses »Ich« bei Hensel paratextuell weiterhin vom »Wir« eingeschlossen: »Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten« lautete der Titel ihres 2009 ­erschienenen Buchs. 2018 veröffentlichte sie zusammen mit Wolfgang Engler das Buch »Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein«. Die Verwendung des »Ich« bedeutet keineswegs die Zurücknahme des »Wir«. Die Ich-Form macht jedoch viele Aussagen der Autorin weniger angreifbar. Um ihre Autorität muss sie dabei nicht fürchten, da ihre Position als Sprecherin des Ostens in­zwischen so gut etabliert ist, dass sie nicht mehr eigens durch den Gebrauch des »Wir« bekräftigt werden muss. Der Zusammenhang ist mit dem Namen Hensel gesetzt. Eigentlich ist es also beim »Wir« geblieben, allerdings nimmt das »Wir« nicht mehr nur auf eine Generation Bezug, sondern auf »die Ostdeutschen«. Hensel hat die Beschreibungskategorie Wolfgang Englers – die Ostdeutschen – diskursiv gekapert und zur Identifikationskategorie erklärt. Der Sound des kollektiven Sprechens ist also geblieben, aber das Kollektiv, auf das es sich bezieht, ist ein anderes. Auch die Aussage über das Kollektiv ist eine andere: Bestand die generationelle Identität noch in der Auflösung der Differenz zwischen »Ost« und »West«, beruht die neue, ostdeutsche Identität auf der Perpetuierung dieser Differenz. »Wir« sollten eben »anders bleiben«. Das mag damit zusammenhängen, dass Hensel – sie mochte sich noch so sehr zu ihren westdeutschen Altersgenossen hingezogen fühlen – am Ende doch ­immer wieder als Ostdeutsche angesprochen wurde, oder damit, dass ihr Konstrukt von »Generation« zu fragil ist, um der Autorin langfristig als Bezugsgröße zu dienen. Im Journalismus dient die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eben auch als Geschäftsmodell. So würde Hensel es zwar nicht sagen, aber die Strategie der Legitimierung von Autorschaft durch die eigene Herkunft zeigt sich deutlich, wenn Hensel in einem Gespräch mit Wolfgang Engler mehrmals von ihrem »geschichtlichen Auftrag« spricht, der ihr als Frau und als Ostdeutscher zukomme. Es geht nun nicht mehr um die Abgrenzung von den Eltern, sondern um den Anschluss an die familiäre Genealogie.

Hensels verleiht ihrer Stimme überhaupt nur Gewicht, indem sie sich als kollektives Subjekt vervielfältigt. Der regressive Kollektivierungsschub ist weniger ein Effekt der Sozialisation als einer der Autorisierung der Autorin unter den Kommunikations­bedingungen der neuen Bundesrepublik.

Wenn Hensel heute »Geschichten aus Ostdeutschland« unter dem Titel »Wie alles anders bleibt« veröffentlicht und findet, dass diese Differenz erhalten bleiben »sollte«, ist das auch eine Verstetigung ihrer Geschäftsgrundlage. Subjektiv mag es vollkommen ernst gemeint sein, dass sie sich damit für die Belange Ostdeutschlands einsetzt. Zugleich hält sie die Ostdeutschen in ihrer Subalternität fest, indem sie ein Rederecht (fast) nur für den Osten und auf der Basis kollektiver Identitäten beansprucht und damit ein tiefsitzendes Vorurteil gegenüber Ostdeutschen indirekt bestätigt. Die Autorin beklagt einerseits die Machtlosigkeit Ostdeutscher im gesellschaftlichen Diskurs, bestätigt diese Position andererseits, indem sie sie zur Grundlage ihres historischen Auftrags erklärt.

Die grammatikalische Verschiebung – vom Wir zum Ich – hat also nicht unbedingt etwas mit größerer Subjektivität, sondern eher etwas mit der Verschiebung der Identifikationskollektive und der Normalisierung der Sprecherposition Hensels zu tun. Es gibt aber noch einen dritten Grund für die Verwendung des »Ich«. Das ostdeutsche »Ich« schafft die Möglichkeit, den Schritt ins gesamtdeutsche »Wir« in Szene zu setzen. Denn während Hensel als »Ich« erlebt, welche Vorurteile über den Osten und die Ostdeutschen in den Medien kursieren, reklamiert sie geradezu staatsfraulich ein »Wir«, das Pegida und NSU als deutsches Problem begreift. Das »Ich« wird also partiell aus dem ostdeutschen »Wir« herausgelöst. Während einerseits die Zugehörigkeit zum ostdeutschen Kollektiv die legitimatorische Grundlage von Hensels Sprechen ist, muss sie sich von diesem Kollektiv andererseits abspalten, um ihre Zugehörigkeit zum Kollektiv ihrer mehrheitlich altbundesrepublikanisch geprägten Kollegen und Leser beglaubigen und so zur Vertreterin einer gesamtdeutschen Vernunft werden zu können, die die Differenz zwischen Ost und West transzendiert. Das »Ich« ist also schon auf dem Weg zu einer neuen Identifikationsstufe als Deutsche.

III.
»Dritte Generation Ost« entstand als Netzwerk jüngerer Ostdeutscher, die in der Mehrzahl zwischen 1975 und 1985 geboren wurden und sich 2010 unter diesem Namen zusammenfanden. Wie Hensel, die ebenfalls dieser Alterskohorte angehört, verwies die Gruppe auf die gemeinsame Generationenerfahrung als sinnstiftendes Moment. Hensel spielte für »Dritte Generation Ost« indes kaum mehr eine Rolle. Als die Autoren und Autorinnen das Generationsmodell gerade für sich entdeckten, beschäftigte sich Hensel nicht mehr nur mit ihrer Generation, sondern längst ganz allgemein mit dem Osten. Umso überraschender war das Auftauchen dieser »Dritten Generation Ost«. Erstens hatten die Autoren und Autorinnen nur wenige und teilweise recht unspezifische Erinnerungen an das untergegangene Land. Das führte dazu, dass gerade diejenigen, die die Erinnerung an die DDR von Klischees befreien wollten, sie ausgesprochen holzschnittartig darstellten. »Ich habe wenige Erinnerungen an diese Zeit, wenngleich prägende. Nirgends war für mich die Ausgrenzung, die man als Andersdenkender erfuhr, so spürbar wie in der Schule«, heißt es in dem 2012 erschienenen Band »Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen«. Die DDR war für die Autoren das, »was mir darüber erzählt wurde«. Man könnte sagen, es ist die erste Alterskohorte, deren Gedächtnis vom öffentlichen Diskurs über die DDR geprägt wurde, weil sie selbst keine genaue und artikulierbare Erinnerung mehr an die DDR hat. Zweitens hatte diese Alters­kohorte die Erfahrung des Umbruchs nur sehr vermittelt durch die Erfahrungen der Eltern gemacht. Die Korrelation der beschleunigten gesellschaftlichen Transformation und der biographischen Veränderungen war für sie nur eingeschränkt erinnerlich. In gewisser Weise entfiel damit ein wichtiger Grund, eine Generationen­identität zu konstruieren. Drittens war den Bildungs- und Berufsbiographien der Autoren von »Dritte Generation Ost« eine Prägung in der DDR nicht mehr anzumerken. Sie hatten nach der »Wende« studiert, häufig im Ausland, arbeiten für die Welt oder den Focus, für die Hertie School of Governance, die Journalistenschule Utrecht, für Banken in Zürich und Frankfurt oder im Europaparlament.

Anders als es heute auch Hensel selbst scheinen mag, sprach sie damals nicht für »die Ostdeutschen«, im Gegenteil, sie konstituierte ihre Generation, um sich von »den Ostdeutschen« zu unterscheiden. Sie gehöre zu den ersten Westdeutschen, die aus dem Osten kamen, heißt es in einem der meistzitierten Sätze des Buchs.

Die behauptete Identität blieb auch deshalb so ungreifbar, weil die ostdeutschen Netzwerker kaum noch angeben konnten, worin die differentia specifica der Ostdeutschen ihrer Jahrgänge eigentlich bestehen sollte. Zugleich beanspruchten sie, die diskursive Ost-West-Differenz zu überwinden. Die einen erklärten die Fragmentierung von Identität durch den Systemwechsel zum neoliberalen Anpassungsvorsprung, der ihre Identität ausmachen sollte. »Wir sind integriert und aufstrebend, ehrgeizig und oft kapitalistischer als mancher im Westen«, formulierten sie im Ton einer Initiativbewerbung. Andere beschrieben die Differenzen zwischen Bundesländern im föderalen Verbund der BRD als Ost-West-Differenz oder insistierten auf ihrer Heimatverbundenheit, die aber als bloß regionale Herkunft, die zudem nach 1989 eine gesamtdeutsche Konjunktur erlebte, kaum eine spezifisch ostdeutsche Signatur hatte. Wieder andere wagten sich doch mit der Behauptung moralischer Überlegenheit aus der Deckung – sie seien »solidarischer« als Westdeutsche. Wieder andere bezogen sich auf die ostdeutsche Produktpalette – Rotkäppchen-Sekt, Bautz’ner Senf und Spreewaldgurken. Warum konstruierte die Autoreninitiative überhaupt eine ostdeutsche Identität, wenn sie nicht wusste, worauf diese sich bezieht, was aus ihr folgt und ob man den Graben nicht tiefer gräbt, den man doch zuschütten wollte?

Man kann das sicher teilweise damit erklären, dass die Autoren durch ihr unmittelbares soziales Umfeld noch in irgendeiner Weise von der Lebenswirklichkeit der DDR geprägt wurden. Weil ihnen diese Prägung aber kaum noch als eigene Erinnerung zur Verfügung stand und diese Leerstelle vielleicht ein Element ist, das dieser Alterskohorte gemeinsam ist, musste sie diese Identität noch viel offenkundiger konstruieren als vorangehende Kohorten; wenngleich auffällig ist, dass sie sich dieses Konstruktionscharakters kaum bewusst waren oder ihn bewusst verschleierten. Diese Alterskohorte hatte es mit einer Zuschreibung von Identität zu tun, die sie aus biographischen Gründen noch auf sich bezog, ohne sie mit ihrer Biographie in einem starken Sinne füllen zu können. Wenn es also ein Generationsmerkmal gibt, besteht es in dem Missverhältnis zwischen Prägung durch die DDR und Nichtwissen von der DDR.

Aber das scheint nur ein Teil der Erklärung zu sein. Für die Autoren von »Dritte Generation Ost« ist Identität zum politischen Instrument ­geworden. Sie gingen von der (zutreffenden) Beobachtung diskursiver Marginalisierung Ostdeutscher aus und bedienten sich des Netzwerks, um ihre Position im Diskurs zu stärken. Dabei spielte es zunächst einmal keine Rolle, mit welchen Motiven sie das taten. Diese akademische ­Kohorte hatte gelernt, dass nach den poststrukturalistischen Zweifeln an der Identität Identitäten nicht aufgehört haben zu existieren, sondern zu politischen Instrumenten der Durchsetzung von Interessen geworden sind – mögen es nun soziale Interessen sein oder einfach individuelle Karriereinteressen.

Allerdings ist ein loser Verbund von Autoren und Autorinnen noch keine Generation, sondern eine Gruppe, die sich eine Verstärkung ihrer individuellen Interessen von der programmatisch eher schwachen und temporären Kooperation mit anderen verspricht. Fraglich ist, ob sich die Interessenpolitik aus der Generationszugehörigkeit oder die Generation aus der Interessenpolitik ergab. Das Pro­blem, dass es sich lediglich um im Durchschnitt erfolgreiche Akademiker handelte, wurde jedendfalls nicht diskutiert. Die personelle Basis der »Generation« war ausgesprochen schmal. Im Wesentlichen geht die Entstehung von »Dritte Generation Ost« auf die »Organisationsberaterin, Speakerin und Publizistin« ­Adriana Lettrari zurück. Sie hat das Netzwerk gegründet. Zuvor war sie in der Organisationsberatung des Fürstenberg-Instituts tätig gewesen, das dann die »Dritte Generation Ost« promotete und dabei von der ebenfalls von Lettrari gegründeten Organisation »Wendekinder« unterstützt wurde. Auch an der »Elaboration des Forschungsfeldes« der »Generation der Wendekinder« ist Lettrari federführend beteiligt, die sich wissenschaftlich mit der Dissertation »Hart am Wind: Politische Hochleistungsteams in Büros deutscher Bundestagsabgeordneter als Schlüssel zur professionellen Bewältigung hyperkomplexer Anforderungen« empfohlen hat. Die »Dritte Generation Ost« ist also in gewisser Weise ein Effekt personeller Selbstreferenz.

Dies ist ein Ausschnitt aus dem im »Dschungel« erschienenen Text.

Der Text wurde gekürzt und redaktionell überarbeitet.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor aus:
Norman Ächtler, Anna Heidrich, José Fernándes Pérez und Mike Porath (Hg.): Generationalität, Gesellschaft, Geschichte. Schnittfelder in den deutschsprachigen Literatur- und Mediensystemen nach 1945. ­Verbrecher-Verlag, Berlin 2020, 632 Seiten, 39 Euro