Rezension des Romans »Die Scham« von Annie Ernaux

Bohrende Scham

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Annie Ernaux schreibt die Biographie ihrer Familie mit dem Roman »Die Scham« fort. Der Band »Eine Frau« beschäftigte sich mit der Mutter, »Der Platz« mit dem Vater. Über die Mutter berichtete die Erzählerin, dass sie eine strenge Frau war, die mit großer Disziplin das eigene Ladengeschäft geführt hat; über den aus einfachen Verhältnissen stammenden Vater, dass er seine Tochter auf ihrem Bildungsweg gefördert hat und sie ihm dabei fremd wurde. In den Büchern ging es um das Verhältnis zwischen Tochter und jeweiligem Elternteil.

»Die Scham« beleuchtet nun die Beziehung der Eltern untereinander. Wie in einem Brennglas bündelt sich das Verhältnis der Eheleute in einer Szene, die für das damals zwölfjäh­rige Mädchen zum Quell unendlicher Scham wird: der Moment, als der ­Vater mit einem Beil auf die Mutter losgeht. Für die Erzählerin steht fest, dass der Vater, »der seine Unterlegenheit mit einer tödlichen Geste zertrümmern will«, die Mutter umgebracht hätte, wäre sie, die Tochter, nicht dazugekommen. Fortan sieht sie es als ihre Aufgabe an, zu verhindern, dass der Vater die Mutter tötet und ins Gefängnis muss.

Annie Ernaux versucht, die Umstände des Gewaltakts zu rekonstruieren, »mit dem ich die meisten Ereignisse meines Lebens verglichen habe, um das Ausmaß des Schmerzes zu ermessen, ohne dass je eines an sie herangereicht hätte«. Wie waren die Beteiligten an dem Tag angezogen, was lief im Radio, welche ­regionalen, welche zeitgeschichtlichen Ereignisse fanden an diesem Junisonntag 1952 statt? Ernaux rekonstruiert um des Rekonstruierens willen. Ihre Erzählung ist der Versuch, »die eingefrorene Szene in Bewegung zu setzen«. Es geht dabei nie darum zu urteilen. Die meisten Autoren hätten wohl versucht, einen Zusammenhang zwischen dem biographischen Ereignis und den gesellschaftlichen Bedingungen herzustellen, um die Dinge rückblickend einzuordnen und zu bewerten. Ernaux geht den umgekehrten Weg. Sie schneidet das Erlebnis wie mit einer Schere aus der Zeit heraus.

Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2020, 110 Seiten, 18 Euro