12.11.2020
Zum 75. Geburtstag von Willi »Ente« Lippens

Antideutsch erzogen

Eine Würdigung eines der besten, eigenwilligsten und kuriosesten Kicker seiner Zeit

Mit ihm wären die Deutschen 1974 niemals Fußballweltmeister geworden, ist sich Willi Lippens sicher. Dabei hatte ihn Bundestrainer Helmut Schön vor der WM regelrecht bekniet, der Nationalmannschaft beizutreten. Sieben bis acht Mal habe Schön ihn angerufen, sieben bis acht Mal habe er nein gesagt. So gesehen, konnte Fußballdeutschland wohl von Glück reden.

In gewissem Sinne war Lippens’ Entscheidung, nicht für Deutschland anzutreten, bereits vor seiner Geburt gefallen. Der kleine Willi kam am 10. November 1945 im niederrheinischen Hau, unweit von Kleve, auf die Welt. Und es waren – ausgerechnet – Deutsche, die schon vorher dafür gesorgt hatten, dass drei Jahrzehnte später die Fußballwelt um den WM-Auftritt eines der besten, eigenwilligsten und kuriosesten Kicker seiner Zeit gebracht wurde. Ja, es ist ­leider wahr: Der begnadete Fußballer Willi Lippens, der am Dienstag 75 Jahre alt wurde, trat nie bei einer WM an. Und das deutsche Nazipack hat schuld.

»Ich habe nie eine Torchance überhastet vergeben. Lieber habe ich sie vertändelt.« Willi Lippens

Helmut Schön wusste nur zu genau, warum er sich so beharrlich um diesen Lippens bemühte. Schließlich war »Ente«, wie er wegen seiner leicht watschelnden Gangart genannt wurde, neben Gerd »Bomber« Müller, der eine Woche vor Lippens geboren worden war, der damals torgefährlichste Bundesligaspieler. Während der Erstligazeit von Rot-Weiss Essen zwischen 1966 und 1976 traf Lippens 79 Mal für seinen Verein. Weitere 13 Dinger versenkte er in drei Bundesligajahren für Borussia Dortmund. Am Ende seiner aktiven Watschelbahn hatte er in verschiedenen Ligen ­insgesamt über 200 Tore geschossen.

Mit 18 kam Lippens nach Essen. Im traditionsreichen Georg-Melches-Stadion an der Hafenstraße begann er 1965 seine Profikarriere. Elf Jahre lang blieb es seine fußballerische Heimat. »Rot-Weiss Essen – das war damals Musik im deutschen Fußball«, erinnerte sich Lippens später. Bei Rot-Weiss gaben sie ihm einen Vertrag über 80 Mark im Monat. Davon zogen sie ihm allerdings 30 gleich wieder ab – als Miete für eine Bude unter der Tribüne, wo der Neuzugang vom Niederrhein ein Jahr lang hauste.

Schon in Kleve war das Geläuf des dortigen VfB quasi sein Zuhause ­gewesen. Denn anders als viele große Spieler der damaligen Zeit lernte ­Lippens das Fußballspielen nicht auf der Straße, sondern auf einem richtigen Platz, dem des VfB: »Ich kannte den Sohn vom Platzwart, und da war’n wir natürlich jeden Tag mit der Knolle drauf, ist klar. Du musst per du sein mit den Dingen, sagt man bei uns immer.« Später kickte er offiziell beim VfB Kleve und wurde dort so sehr per du »mit der Knolle«, dass er nur noch eines wollte: Profi werden.

Sein Debüt in der ersten Essener Mannschaft verdankte der damals 19jährige jener kessen Ausgebufftheit, für die Lippens später fast noch berühmter wurde als für seine einzigartige Spielweise: »Irgendwann in der Vorbereitungsphase war der gesetzte Linksaußen krank. Darum durfte ich spielen, in der Spitze. Wir gewannen 7:1, ich schoss fünf Tore. Der Trainer fragte, auf welcher Position ich in Kleve gespielt hätte. Linksaußen, sagte ich. Das war nicht so, ich war Rechtsaußen, manchmal offen­siver Mittelfeldspieler, aber weil der Linksaußen krank war, glaubte ich, auf diese Art eine Chance zu bekommen. So wurde ich Linksaußen.« Und zwar »der beste Europas«, wie sein Trainer Ivica Horvat später ­sagte.

Schnell avancierte Lippens zum Liebling der Essener Fans, die froh und dankbar waren, nach ihren Fußballgöttern August Gottschalk, Helmut Rahn und Fritz Herkenrath endlich wieder einen Großen in der Hafenstraße erleben zu dürfen. Und der leicht angedickte Rechtsfuß auf der linken Seite sorgte mit seinen Dribblings, bei denen er die Gegner oft genug wie dumme Trainings­pylonen stehen ließ, zuverlässig für Begeisterung. Offensive hieß Lippens’ oberste Devise, selbst wenn der Trainer anderes angeordnet hatte: »Muss schließlich Spaß machen, wenn man ins Stadion kommt.« So verteidigte er seine antidefensiven Spielfertigkeiten, aber eben auch seine manchmal torabträgliche Ballverliebtheit. Aber dazu stand er: »Ich habe nie eine Torchance überhastet vergeben. Lieber habe ich sie vertändelt.«

Lippens ließ es einfach zu oft klingeln, so dass ihm kein Trainer wirklich reinredete. Sein Erfolgsgeheimnis war seine Unberechenbarkeit. Wenn alle Welt meinte, der fummelt, zog er ab. Wo andere normalerweise draufhielten, legte er noch einen seiner unbegreiflichen Schlenker ein. Der Ball klebte geradezu an seinen Schlappen. Und nicht mal die berüchtigtsten Klopper sahen Land bei ihm. Über den ehemaligen Mönchen­gladbacher Spieler Berti Vogts sagte Lippens rückblickend: »Der hatte vor jedem Spiel gegen mich Dünnschiss.«

Lippens konnte am Ball wirklich alles. Mitunter nahm er ihn mit dem Hintern an. Eines seiner Tore erzielte er per Kopf – aber das im Handstand. Seine erste Rote Karte gilt als die ­lächerlichste der deutschen Fußballgeschichte. »Ich verwarne Ihnen!« hatte ihn der Schiedsrichter angeschnauzt, worauf ihm Ente antwortete: »Ich danke Sie!« Der Schieds­richter fühlte sich so gefoppt, dass er Lippens wegen Beleidigung vom Platz stellte.

Überhaupt legte Lippens großen Wert auf Späßken, wie man in Essen und Umgebung sagt. »Unproduktive Sachen«, sagte er dazu, zu denen er sich aber nur hinreißen ließ, wenn »wir das Dingen im Sack hatten«. Eine dieser unproduktiven Sachen war, sich vor einem Eckball eine Fanmütze aus dem Publikum reichen zu lassen. Danach gab er die Kappe wieder ab. Einmal setzte er sich mitten im Spiel auf den Ball und war­tete seelenruhig auf seine heranschnaufenden Gegner, um erst kurz vor ihnen aufzuspringen und sie lässig auszutanzen.

Trotz dieser ausgeprägten Neigung zum Schabernack wollte ihn Bundestrainer Schön unbedingt. Er wusste aber auch, was Lippens fehlte: der richtige Pass. Was beileibe nicht Lippens’ Zuspielverhalten meinte. Von Geburt an hatte er einen niederländischen Reisepass, doch der nutzte ihm da nichts. 40, 50 Spiele hätte er für Deutschland machen können, schätzte Lippens mal, die WM inklusive. Und Schön hatte ihm das auch garantiert – wenn er sich einbürgern ließe. Doch das durfte Lippens nicht. Sein Vater war dagegen.

Vater Lippens war Niederländer, er stammte aus der Nähe Maastrichts. In den dreißiger Jahren kam er auf Arbeitssuche nach Kleve. Dort fand er Arbeit und später auch eine Frau, Willis Mutter. Die Familie lebte in Kleve, doch den niederländischen Pass gaben Vater und Sohn nie ab. Lippens’ alter Herr verspürte auch keinerlei Bedürfnis nach dem Hakenkreuz oder, später, dem Adler auf dem Pass. Im Gegenteil: Er hasste die Deutschen von Herzen, und das aus sehr nachvollziehbarem Grund. Er war während des Krieges wiederholt mit anderen Niederländern, die in Kleve lebten, in einen Keller verbracht und dort von deutschen Nazis brutal schikaniert worden. Sie wollten, dass sich die Niederländer zum Kriegsdienst in der Wehrmacht meldeten. Doch Lippens’ Vater verweigerte sich trotz vierfacher Einkellerung erfolgreich dieser Zwangsrekrutierung.

Willi wurde einigermaßen anti­deutsch erzogen: »Wenn wir ein Länderspiel im Fernsehen sahen, hielten wir immer mit der Mannschaft, die gegen Deutschland spielte. Mein Vater schimpfte immer über die Scheißdeutschen und dass sie ­immer Glück hatten.« Wäre Lippens dem Ansinnen Schöns gefolgt und deutscher Staatsbürger und Nationalspieler geworden, hätte er sich bei seinem Alten nicht mehr blicken lassen brauchen.

Und das Oranje-Team? Tatsächlich rief nach Schön auch der nieder­ländische Bondscoach František Fadr­honc an. Der träumte von einer ­Angriffsreihe aus Johan Cruyff, Piet Keizer und Lippens. Letzterem trug er also an: »Ich will dich in der Mannschaft haben. Auch die Spieler sind einverstanden.« Was sich aber schon bei Lippens’ erstem Einsatz für die Niederlande als Fehlinformation erwies. Er schoss gegen Luxemburg zwar eines der sechs Tore, doch ansonsten war das Spiel für ihn kein Zuckerschlecken: »Ich bin gerannt, aber die anderen ignorierten mich.«

Schon im Bus zum Stadion bekam Lippens zu spüren, was Sache war. »Stell doch mal den kaputten Nazisender aus«, habe da einer genörgelt, als der Fahrer einen deutschen ­Radiosender reindrehte. Als Lippens was dagegen sagte, wurde er als »halber Deutscher« beleidigt. Da hätte er schon aussteigen müssen, meinte Lippens später. Doch er warf erst nach dem Match gegen Luxemburg hin. Es blieb sein einziges Länderspiel. Die WM 1974 fand ohne Willi Lippens statt.

Noch Jahre später klingt Lippens wehmütig, wenn er über diese Zeit spricht – und sich vielleicht auch an den Kollegen Rainer Bonhof erinnert. Der hatte ursprünglich ebenfalls einen niederländischen Pass, ließ sich aber einbürgern. So konnte er nicht nur Weltmeister werden, sondern auch einen der schrägsten Fußballersprüche kreieren, als er – so jedenfalls geht die Legende – nach dem 2:1-Finalsieg gegen die Niederlande gestammelt haben soll: »Weltmeister sein ist echt das Geilste. ­Außer natürlich irgendwas mit ’ner Frau.«

Hätte Willi Lippens mit der niederländischen Mannschaft an der WM teilgenommen, wäre, so war er sich fortan sicher, auch für Deutschland alles anders gekommen: »Mit mir wäre Nederland Weltmeister geworden.«