Das neue Mixtape von The Streets

Wenn das Telefon nicht stillsteht

Eigentlich hatte Mike Skinner sein Musikprojekt The Streets für beendet erklärt, doch zusammen mit vielen Gastmusikern hat der britische Rapper jetzt neue Songs veröffentlicht.

»Es ist nicht cool, mit 40 im Nachtclub stoned zu sein, aber es passiert halt!« Mike Skinner ist sich auch mit 42 noch treu. Besser bekannt ist er unter seinem Künstlernamen The Streets. Als das Online-Magazin laut.de ihn vor ein paar Jahren fragte, ob er Drogen nehme, war die Antwort ein schlichtes »Ja.« Aber Alkohol trinke er nur noch abends.

Vielleicht heißt sein neues Mix­tape ja deshalb »None of Us Are ­Getting Out of This Life Alive«. Kein Album. Ein Mixtape. Die offizielle Diskographie von The Streets zählt zwei Mixtapes und fünf Studio­alben. Das neue Mixtape ist die erste offizielle Langveröffentlichung von The Streets seit 2011, zwischendurch erschienen nur immer mal wieder einzelne Tracks von ihm bei Twitter. Und obwohl Skinner die 40 überschritten hat, verheiratet und Vater ist, hat er immer noch den Finger am Puls der Zeit. Mit seinem Debüt »Original Pirate Material« erfand er 2002 sein eigenes Genre. »Für mich ist das britischer Rap«, meinte er ­gegenüber laut.de. »Allerdings nicht so, wie man ihn bisher kannte.«

Mike Skinner wurde 1978 in London geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Birmingham. Mit 15 Jahren begann er, seine ersten eigenen Tracks zu basteln. Im Jahr 2000 veröffentlichte das Label Locked on Records seine erste Single »Has It Come to This«. Sie wurde ein Hit. Daraufhin zog Skinner in den Londoner Stadtteil Brixton und suchte dort Anschluss an die Szene. UK Garage war zu der Zeit der Stil der Stunde, eine wilde Mischung aus House und Dubstep. Angereichert mit HipHop und Ragga nennt sich das Ganze dann Grime. Und hier dockte Skinner mit seinem Projekt The Streets an. Die coolen Beats definieren zwar seine Musik, aber sein Habitus und sein Stil prägen die Texte. Es gehe ihm darum, das Alltagsleben zu beschreiben, er wolle »music from the Streets« machen, erklärt er mal. Den Londoner Cockney-Slang in dem er rappt, kann man als Bekenntnis zur britischen Arbeiterklasse verstehen.

Die Ästhetik von The Streets hat nichts mit US-amerikanischem Gangsta Rap zu tun. Skinner posiert gerne vor brutalistischen Wohnblocks in den Londoner Suburbs, wie sie auf dem Cover von »Original ­Pirate Material« oder »Computers and Blues« zu sehen sind. Er hat kurzgeschorene Haare, trägt gern Hemden oder Poloshirts. Sein Erscheinungsbild erinnert eher an die Mods oder an den Britpop. In den frühen Achtzigern wäre er wohl auch als kleiner Bruder von Terry Hall oder Jerry Dammers, den Köpfen von The Specials durchgegangen. Auch musikalisch knüpft er durchaus an die Ska-Dub-Ära an, etwa mit seiner zweiten Single »Let’s Push Things Forward«, die mit einem gemächlichen Reggae-Rhythmus aufwartet. Seine Affinität zum Britpop wiederum ist sehr deutlich in seinem Hit »Fit but You Know It« zu hören.

Seinen größten Erfolg landete Skinner 2004 mit seinem brillanten zweiten Album »A Grand Don’t Come for Free«. Das Album erzählt in Episoden die Geschichte einer langen Nacht, in der Skinners Fernseher ­kaputtgeht und er 1 000 Pfund, die er gespart hatte, nicht wiederfinden kann. Hat er sie verlegt? Sind sie geklaut worden? Außerdem geht es um seine Freundin Simone, von der sich herausstellt, dass sie eine Affäre mit seinem Kumpel hat und im Laufe der Nacht mit ihm Schluss macht. Skinner raucht Haschisch, betrinkt sich, stolpert von einem Ort zum nächsten und von einer skurrilen Situation in die andere. Aber was er auch unternimmt, das Geld ist weg. Ein lakonischer Guy-Ritchie-Gangsterfilm im Albumformat.

Dass bei jedem Track ein anderer Gast mitwirkt, macht das Tape zur abwechslungsreichsten Veröffentlichung von The Streets überhaupt. Und zweifellos war es eine gute Idee von Mike Skinner, hauptsächlich sehr junge Musiker einzuladen.

Obwohl sich die drei nachfolgenden Alben ebenfalls gut verkauften, konnte er diesen kreativen Coup nicht mehr toppen. 2011 macht Skinner Schluss mit The Streets. Das ­Album »Computers and Blues« sollte eigentlich den Abschluss darstellen. 2009 war er Vater geworden, im Jahr darauf heiratete er. Außerdem litt er unter chronischer Erschöpfung. »Es ist traumatisch, sehr jung und gleichzeitig sehr berühmt zu sein«, gestand er dem Guardian. »Es ist ein bisschen, wie im Lotto zu gewinnen. Das geht ja meistens auch nicht gut aus.«

Natürlich war Skinner aber weiterhin in der Musikszene präsent. Er versuchte sich neben dem Job als Komponist von Filmmusik auch als Schauspieler. »Ich muss kreativ sein«, sagt er, »sonst werde ich lebensmüde.« 2017 kehrte er dann doch wieder als The Streets auf die Bühne zurück, und das mit großem Erfolg.
Das erste Mixtape von The Streets war im Abschiedsjahr 2011 erschienen. Das nun erschienene »None of Us Are Getting Out of This Life Alive« ist Skinners Comeback. Und was für eines! Dass bei jedem Track ein ­anderer Gast mitwirkt, macht das Tape zur abwechslungsreichsten Veröffentlichung von The Streets überhaupt. Und zweifellos war es eine gute Idee von ihm, hauptsächlich sehr junge Musiker einzuladen. Dass die dann alle tatsächlich auch mitgemacht haben, zeigt, was für einen enormen Einfluss der Musiker trotz seiner langen Pause bis heute besitzt.

Der Eröffnungstitel ist die ohrwurmtaugliche, von einem billigen, stolpernden Beat getragene Vorauskoppelung »Call My Phone Thinking I’m Doing Nothing Better«, ein herr­licher Track, den Skinner zusammen mit der Psychedelic-Rockband Tame Impala beziehungsweise deren Sänger Kevin Parker aufgenommen hat. »Tame Impala fühlen sich für mich fast so an, als seien sie die HipHop-Beatles«, erzählte Skinner dem New Musical Express. Parker habe er in Belgien auf einem Festival kennengelernt und sofort beschlossen, dass er mit ihm arbeiten wolle. Mit dem Song steigt man gleich tief in die Themenwelt Skinners ein. Denn das Handy, das schon im Titel vorkommt, spielt bei The Streets immer wieder eine große Rolle. »Unsere Beziehungen werden durch Whatsapp, Tinder und Instagram gefiltert«, meint Skinner, »und wenn du so nah am Alltag dran sein willst wie ich, dann ist das Handy einfach oft ein Thema.« Noch ein zweiter Song des Mixtapes widmet sich dem Thema, der Titel sagt alles: »Phone Is Always in My Hand«.

Der Track, der auch der gesamten Veröffentlichung den Titel gibt (»None of Us Are Getting Out of This Life Alive«), ist in Kooperation mit den Post-Punkern Idles entstanden: verzerrte Gitarren, hämmerndes Schlagzeug. Skinner teilt sich bei diesem Crossover das Mikro mit Idles-Sänger Joe Talbot – und es funktioniert. »Die kamen und haben den ganzen Tag geprobt«, erzählt Skinner, »das ist schon komisch, wenn du vom Dance und von Rap kommst, wo du ja eher improvisierst.«
»I Wish You Loved You as Much as You Loved Him« mag man als alter The-Streets-Fan sofort. Es erinnert ein bisschen an »Don’t Mug Yourself« von 2002. Aber nur ein bisschen. Aber das bisschen reicht schon für das richtige Feeling. Hier mischen der Londoner Grime-Star Donae’O und die R ’n’ B-Sängerin Greentea Peng mit. Ein herrlich luftiger Song für den Dancefloor.

Sehr stark ist auch der Track »You Can’t Afford Me«, aufgenommen mit der britischen Rapperin Ms Banks. Sogar die Zusammenarbeit mit dem Lo-fi-Rapper Jimothy Lacoste funktioniert exzellent. Wer hätte erwartet, dass der alte Hase Skinner und der junge, durch Youtube bekannt gewordene Jimothy so gut zusammenpassen? Und so geht die Party über zwölf Tracks weiter. Ein wenig Funk, dazwischen Drum and Bass, alles ist dabei. Es gibt kein Füllmaterial, keinen Durchhänger. Skinner ist voll da, scharfsinnig und lakonisch.

Außerdem hat er noch einiges vor. Einen Film will er machen, das Drehbuch ist anscheinend schon fertig. Eine Fortsetzung der Geschichte von »A Grand Don’t Come for Free«. »Es soll ein bisschen wie ein Märchen werden, aber erzählt in der richtigen Welt.« Das ist bei genauer Überlegung eigentlich das Motto für alles, was Mike Skinner so macht.

The Streets: None of Us Are Getting Out of This Life Alive (Island Records)